Führungskräftetrainings sind so etwas wie ein Allheilmittel geworden. Egal ob es bei der Qualität hakt, der Geschwindigkeit, der Innovation, dem Wachstum oder der Motivation der Mitarbeiter: Führungskräftetrainings müssen her.
Der Schluss, dass die großen Hebel zum Erfolg alles etwas mit Führung und deren institutionalisierten Vertretern zu tun haben könnte, ist ja gar nicht so falsch. Falsch sind hingegen die Trainings selbst.
Stürmerstars und Abwehrchefs
Die meisten Führungskräftetrainings zeichnen sich durch mindestens drei strukturelle Schwächen aus. Deshalb können diese Seminare selbst zwar toll gemacht sein, bringen die Unternehmen aber bestenfalls auf ein mittelmäßiges Niveau. Im schlimmsten Fall ziehen sie sie sogar herunter.
Ich habe in dieser Kolumne ja schon länger keine Fußballanalogien genutzt, aber zur Verdeutlichung dieser drei Schwächen eignen sie sich einfach hervorragend.
Schwäche Nr. 1 der klassischen Führungskräftetrainings ist, dass dort keine Teams erscheinen, sondern eine Truppe von Einzelspielern. Jeder hat vorrangig seine Ziele im Blick.
Oft wird diese Einzelspieler-Attitüde vom Unternehmen sogar unterstützt, weil jede Führungskraft ihre eigenen Ziele bekommt. Diese sind wenig aufeinander abgestimmt und laufen manchmal sogar konträr. Das kommt mir so vor, wie wenn der Trainer zu seinem Stürmerstar sagen würde: „Kevin, du ganz persönlich schießt so viele Tore wie möglich, alles andere ist egal.“ Und zu seinem Abwehrchef: „Du konzentrierst dich voll und ganz darauf, keinen durchzulassen. Der Rest geht dich nichts an, das macht der Kevin.“
Und wenn es mit dem Sieg nicht klappt, kriegen sich Stürmer und Verteidiger in die Haare, weil der eine von hinten keinen Ball serviert und der andere von vorne keine Unterstützung bekommen hat. Der Konflikt ist systemimmanent, egal ob die Paarung nun Harry Kane und Dayot Upamecano (Bayern München), Erling Haaland und Rúben Dias (Manchester City) oder Robert Lewandowski und Jules Koundé (FC Barcelona) heißt.
Ohne Ball, ohne Mitspieler, ohne Gegner
Die Schwäche Nr. 2 trifft auf fast alle Führungskräftetrainings zu: Sie sind pure Trockenübungen. Merken werden Sie das daran, dass nach dem Seminar wie vor dem Seminar ist – es hat sich nichts geändert. Wie auch? Solche Veranstaltungen sind wie ein Fußballtraining, bei dem auf den Ball, aber auch auf die Mitspieler und vor allem auf die Gegner verzichtet wird.
Alles bleibt abstrakt. Es wird halt viel über Führung wahlweise Fußball geredet, aber keiner tut es. Maximal gibt es noch hübsche Rollenspiele – sprich wenigstens kommt ein Ball ins Spiel. Aber natürlich kein harter Lederball, sondern ein Softball. Es soll sich ja keiner wehtun.
Was aber die Hauptschwäche aller dieser Trainings ist: Sie bilden keine Systemkompetenz aus, sondern beschränken sich auf die Verbesserung der individuellen Fähigkeiten. Im Grunde sind sie wie Einzeltrainings für Spieler.
Einzeltraining bis zur Mittelmäßigkeit
Die Fähigkeiten der Einzelnen verbessern, ist ja an sich nicht schlecht. Das machen Fußballvereine in ihrer Jugendarbeit auch, um ihre Spieler auf ein gewisses Niveau zu bekommen. Haben die aber dann das durchschnittliche, also ein mittelmäßiges Level erreicht, ist damit Schluss. Denn die Spieler entwickeln sich im individuellen Training fußballerisch kaum weiter. Und das tun Führungskräfte auch nicht.
Woran liegt das?
Ein Blick in die ältere und jüngere Fußballgeschichte erhellt die Gründe. Die Älteren unter Ihnen erinnern sich vielleicht noch an „Los Galácticos“. So lautete der Spitzname für das Team von Real Madrid Anfang der 2000er-Jahre. Der damalige wie heutige Vereinspräsident Florentino Pérez hatte vor seiner Wahl versprochen, die Mannschaft jedes Jahr um einen Superstar, einen „Galáctico“, zu verstärken. Es wurde ein immenses Geld investiert, um Spieler wie Luis Figo, Zinédine Zidane oder David Beckham aus ihren Ligen herauszukaufen.
Kurzzeitig spielte die so geformte Mannschaft auch sehr ordentlich. Real Madrid wurde spanischer Meister und ein Jahr darauf Champions-League-Sieger. Doch die Jahre danach blieb der große Erfolg aus und alle paar Monate wurde der Trainer ausgetauscht. Die Galácticos wurden zum Sinnbild dafür, dass mit den besten Einzelspielern noch lange nicht das beste Team auf dem Platz steht.
Natürlich hinkt der Vergleich mit dem Führungsteam in der Wirtschaft etwas, allein schon weil in den meisten Unternehmen selbst die Top-Manager keine Medienstars mit millionenschweren Werbeverträgen sind. Wo der Vergleich aber trägt, ist die Basis für den Erfolg einer Mannschaft.
Der beruht nicht in erster Linie auf dem herausragenden Können der Einzelspieler. Denn wenn Sie sich diese Ausnahme-Fußballspieler ansehen, sind diese alle so erfolgreich geworden, weil ihre Mannschaften um ihre Stärken herum kreiert oder sich entwickelt haben.
Der Erfolg beruht auch nicht darauf, dass sich alle Spieler persönlich gut miteinander verstehen. Der populäre Schlachtruf „Elf Freunde müsst ihr sein“ ist eine Legende, das zeigen auch die vielen erfolgreichen Mannschaften eindrucksvoll. Der Erfolg beruht vielmehr darauf, dass solche Mannschaften ein herausragendes Gesamtsystem entwickelt haben.
Das Messi-Phänomen
Lionel Messi ist das beste Beispiel dafür: Über fast 15 Jahre hinweg wurde der FC Barcelona sowohl personell als auch taktisch vom ganzen Spielsystem her um ihn herum gebaut. So konnte er den Unterschied machen, was ihm in Paris nie richtig gelang.
Fußballtrainern ist das sonnenklar: Ihr Hauptaugenmerk liegt auf dem Gesamtsystem. Darauf, wie das Team gemeinsam Leistung auf dem Platz bringt. Natürlich brauchen sie fähige Einzelspieler – aber eben welche, die zu diesem System passen beziehungsweise auf deren Stärken das System abgestimmt werden kann.
Dieses System können die Trainer nur mit ihren Spielern gemeinsam entwickeln. Mit „gemeinsam“ meine ich nicht zwingend „partizipativ“ – es muss nicht jeder gefragt werden, ob er einverstanden ist. Ich meine vielmehr, dass der Trainer seine Systemideen mit seinen Spielern trainieren und testen muss, um zu sehen, was funktioniert, was funktioniert nicht, und sofort nachzujustieren.
Von außen gesehen würde ich sagen, dass der spanische Trainer Xabi Alonso mit Bayer Leverkusen derzeit vorführt, wie sehr sich diese Systemarbeit auszahlt. Kontinuierlich über zwölf Monate hinweg geht die Leistungskurve dieses Teams nach oben, das mit hervorragenden Einzelspielern, jedoch weitgehend ohne Superstar auskommt. Ob es zur Meisterschaft reicht? Schwer zu sagen, denn das hat auch etwas mit Spielglück, Verletzungen etc. zu tun. Aber ich könnte mir vorstellen, dass die Leverkusener sich diesmal nicht so leicht abschütteln lassen.
Das Gegenbeispiel ist der sympathische Hauptstadtverein Union Berlin: Seit sie im Sommer viele neue Spieler hinzubekommen haben, ist es dem Trainer Urs Fischer noch nicht gelungen, ein darauf angepasstes Spielsystem zu finden. Dazu kommt, dass viele, teils auch unglücklich verlorene Spiele die Stimmung und das Selbstvertrauen drücken. Es entsteht eine Misserfolgsspirale, die beim Bauen des neuen Spielsystems auch nicht hilfreich ist. Aber gut möglich, dass Union da auch wieder rauskommt.
Das Trainingsdilemma
Wenn ich meinen Blick jedoch zurück auf die Unternehmen richte, sehe ich, dass sich die Inhaber und Geschäftsführer zwar sehr viel Mühe mit der Auswahl ihrer Einzelspieler geben. Danach aber lassen sie sie in einem Standardsystem spielen, das sich mehr oder weniger zufällig über die Jahre ergeben hat. Und wenn es nicht funktioniert, sind eben die Spieler schuld und werden zu Führungskräftetrainings verdonnert.
Doch ein klassisches Führungskräftetraining kann an diesem Dilemma nichts ändern. Im Mittelpunkt des Trainings stehen schließlich die individuellen Fähigkeiten der Einzelspieler. Es wird AN den Führungskräften gearbeitet, statt MIT ihnen AM Führungssystem. Der Grund: Der Systemblick wird weder vermittelt noch geübt. Der Rahmen bleibt wie er ist. Und das Leistungsvermögen des Führungsteams auch.
Schade eigentlich, nicht wahr?
PS: Beim Thema Misserfolg ist mir dieser Satz wieder eingefallen: „Menschen kommen zu Unternehmen, aber verlassen Vorgesetzte“. Der wird ja gerne und ausgiebig von allen zitiert, nur von mir nicht. Weil ich ihn für einen ausgemachten Mythos halte. Warum – darüber muss ich wohl demnächst mal etwas an dieser Stelle schreiben.