Letztes Jahr um diese Zeit an selber Stelle hatte ich meine Kolumne überschrieben mit „2021: ein Jahr für Könner“ – vielleicht erinnern Sie sich. Na ja, und das ist ja wohl auch so gekommen. Sie mussten schon ein Könner sein, um Ihr Unternehmen erfolgreich oder doch zumindest einigermaßen unbeschadet durch dieses Jahr zu führen. Sie brauchten viele Ideen und ein sehr gutes Gespür für die zahlreichen aufploppenden Probleme. Das Lehrbuch der Betriebsführung half Ihnen da kaum weiter.
Genau das ist es, was Könner ausmacht…
Wissen und Können
Zwischen Wissen und Können besteht ein Unterschied: Wissen können Sie sich aneignen, das kann Ihnen jemand beibringen oder Sie können Experten danach fragen. Wissen ist super, wenn Sie bekannte Probleme lösen wollen: Zu denen liegt schon so viel Wissen vor, dass Sie wahrlich nicht gut beraten wären, diese nicht zu berücksichtigen.
Mit steigender Komplexität jedoch begegnen Ihnen immer mehr unbekannte Probleme. Überraschungen. Mit diesen hatten Sie schon in Vor-Corona-Zeiten zu tun, aber die Maßnahmen rund um die Pandemie haben der Komplexität nochmal einen regelrechten Booster verschafft. Zu unbekannten Probleme gibt es aber naturgemäß kein echtes Wissen, Sie können niemanden fragen oder etwas dazu nachlesen. Und doch – bzw. gerade dann – müssen Sie Entscheidungen treffen.
Um bei Entscheidungen ohne ausreichendem Wissen ein gutes Händchen zu haben, brauchen Sie etwas ganz Wesentliches: das passende Gefühl – Sie können auch Gespür sagen – für das Problem. Doch das fällt nicht vom Himmel.
Siege und Niederlagen
Das ist wie bei jeder hervorragenden Leistung: Sie brauchen Lust und Spaß für die Sache, vielleicht etwas Veranlagung oder Talent und vor allem sehr sehr viel Übung, um dieses Gefühl für das Problem zu entwickeln. Sie müssen mit ziemlich vielen unterschiedlichen Situationen in diesem Bereich in Berührung gekommen sein, Annahmen und entsprechende Entscheidungen getroffen und anschließend Erfolg oder Misserfolg erlitten haben. Sie können das vergleichen mit einem guten Tennisspieler: Der muss über viele Siege und Niederlagen hinweg ein Gefühl dafür entwickeln, wie er wann den Ball schlägt, damit der Gegner ihn nicht retournieren kann.
Eine solche Könnerschaft aufzubauen, braucht schlicht und ergreifend Zeit. Manche sagen 10.000 Stunden. Das hängt sicher von der Komplexität des „Spiels“ ab. Und das Spiel von Wirtschaft und Gesellschaft ist definitiv hochkomplex.
Deshalb verfolge ich aktuell die ersten Schritte der neuen Regierung und ihrer Minister mit einer Mischung aus Neugier, Amüsement und dunklen Vorahnungen.
Politische und andere Spiele
Alle diese Minister haben eines definitiv bewiesen: Sie sind Könner des politischen Spiels. Denn viele ihrer Parteigenossen stehen ihnen sicher in Sachen Wissen um dieses Spiel in nichts nach. Und doch haben es genau diese Politiker geschafft, sich im Parteigewimmel durchzusetzen. Sie haben sich intern so erfolgreich Mehrheiten beschafft, dass sie an die Spitze ihrer Partei gelangt sind. Oder zumindest in die zweite Reihe – und nur die kommen für ein Ministeramt überhaupt in Frage.
Diese Politiker haben also offensichtlich ein großartiges Gespür dafür entwickelt, mit welcher Geste sie zum Beispiel eine Kreisparteitagssitzung eröffnen. Oder mit welchen Worten sie einen Lobbyvertreter im Landesverband begrüßen. Oder wie sie eine Kampagne gegen den politischen Gegner im Bundestag fahren, um bei der Wahl erfolgreich zu sein und welche gezielten Spitzen sie in der Talkshow bei Anne Will fallen lassen müssen.
Das alles zeichnet sie aus. Anders wären sie nicht zu Spitzenpolitikern geworden. Dafür spreche ich ihnen meinen großen Respekt aus.
Auch gehe ich bis zum Beweis des Gegenteils gerne davon aus, dass alle Angehörigen der neuen Regierung persönlich integer sind, sich richtig Mühe geben, fleißig und loyal arbeiten und das Beste für dieses Land erreichen wollen.
Und doch sind sie zum großen Teil Anfänger.
Experten und Führungskräfte
Das mag Ihnen zugespitzt erscheinen, doch wenn ich mir die Vorerfahrungen der Minister in dem Fach, das ihnen nun zugeteilt wurde, so ansehe, dann kann ich zu keinem anderen Schluss kommen. Lassen Sie mich pars pro toto den neuen Wirtschaftsminister herauspicken.
Robert Habeck ist Germanist und hat vor seiner politischen Karrieren mit seiner Frau Gedichte übersetzt und Romane veröffentlicht. Wohlgemerkt besonders gute Romane, wie selbst kritische Feuilletonisten hervorheben. Ich kann allerdings in seiner Biografie nicht erkennen, dass er mal ein Unternehmen geleitet hätte. Geschweige denn, dass er Unternehmer gewesen wäre oder in irgendeiner professionellen Art und Weise über längere Zeit mit Unternehmen zu tun gehabt hätte. Ja, er hat sicher schon einmal eingekauft und kennt so die Wirtschaft als Konsument. Aber die Innenseite?
Fachlich gesehen ist er also alles andere als ein Könner.
Jetzt könnten Sie denken: „Dieser Vollmer sitzt dem alten Vorurteil auf, dass der beste Experte auch die beste Führungskraft ist.“ Da möchte ich widersprechen. Zwar haben Sie recht, dass eine hohe Fachkompetenz keine Aussage über eine hohe Führungskompetenz zulässt. Aber der Umkehrschluss ist eben auch unzulässig.
Rationalitäten und Entscheidungen
So ein Minister muss Entscheidungen treffen und zwar über alle Rationalitäten in seinem Bereich hinweg. So denken zum Beispiel die Wirtschaftswissenschaftler in Wahrheit und Nicht-Wahrheit, die Unternehmer in Umsatz oder Nicht-Umsatz, die Gewerkschaft in Arbeitnehmer-Rechte oder -Nicht-Rechte und so weiter. Diese verschiedenen Rationalitäten passen selten übereinander, sind oft sogar widersprüchlich, also nicht konsistent.
Sicher kann der Minister seine Spitzenbeamten um deren Einschätzung bitten, aber entscheiden muss am Ende er. Deshalb braucht er über all diese Rationalitäten hinweg ein Gespür dafür, welche Auswirkungen seine Entscheidung hat.
Und über dieses Gespür kann er meiner Ansicht nur verfügen, wenn er über längere Zeit selbst relevante Erfahrung in diesem Fach gesammelt hat. Wundern Sie sich noch über meine dunkle Vorahnung?
Minister und Wahrscheinlichkeiten
Um es noch einmal klar zu sagen: Ich übe hier keine Kritik an den einzelnen Ministern. Und natürlich gebe ich ihnen die obligatorischen 100 Tage Zeit, um sich in ihren Ämtern zurecht zu finden. Auch ist es nicht ausgeschlossen, dass ein Fach-Anfänger passende Entscheidungen trifft. Nur sehr wahrscheinlich ist es nicht.
Und ich will die vorherigen vier Merkel-Kabinette auch keinesfalls über das neue Scholz-Kabinett stellen oder damit die Ampelkoalition selbst diskreditieren. Mir geht es um das Muster: Das System spült eben ausschließlich Spitzenpolitiker in Ministerämter, und die fachliche Verteilung der Ministerien hat fast ausschließlich etwas mit den diversen Proporzen zu tun. Wäre ich Herr Scholz, sähe mein Kabinett vermutlich gar nicht so viel anders aus – auch mir wären die Hände in dieser Richtung gebunden.
Ich wäre deshalb sehr dafür, dass wir uns da ein besseres System einfallen lassen. Aber solange es noch nicht so weit ist, werde ich an der Situation nichts ändern können. Außer bei der nächsten Wahl mein Kreuz vielleicht anders zu setzen – und weiter solche Kolumnen schreiben. Und das möchte ich gerne auch nächstes Jahr tun.
Lars Vollmerist Unternehmer, Vortragsredner und Bestsellerautor. In seinem Buch „Der Führerfluch – Wie wir unseren fatalen Hang zum Autoritären überwinden“ stellt er den Krisen in unserem Land Selbstorganisation und die Idee einer Verantwortungsgesellschaft entgegen.