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Gastkommentar China goes Caravan

Die chinesische Mittelklasse macht sich offenbar wenig Sorgen um die Wirtschaft. Sie entdeckt die Freuden der Freizeitgesellschaft.
Die Chinesen entdecken das Wohnmobil als Freizeitvergnügen
Die Chinesen entdecken das Wohnmobil als Freizeitvergnügen
© Getty Images

Chinas Wirtschaft kollabiert. Das wissen wir doch alle, oder? Alle, bis auf rund eine Milliarde Chinesen, von denen sich viele gerade draußen amüsieren als gäbe es kein finsteres Morgen.

Ungefähr zu derselben Zeit, in der die Märkte im Westen aus ihrem sommerlichen Dämmerschlaf erwachten und in eine regelrecht Panik über Chinas Wachstum verfielen, haben Liang Lulu und ihre Freunde eine kleine Kinderschar zu einer Übernachtung im Caravan-Park mitgenommen - einfach nur aus dem schierem Spaß daran, zur neuen Mittelklasse Chinas zu gehören.

Die Kinder, deren zermürbendes Schuljahr in dieser ersten Septemberwoche begonnen hat, flitzten hin und her zwischen den Wohnwagen im Chongming Dongping Forest Park, etwa eine Stunde vor den Toren von Schanghai. Ihre Mütter amüsierten sich derweil köstlich damit, Selfies von diesem Vergnügen zu knipsen.

Man konnte sich schon fragen, warum sie eigentlich nicht drinnen im Wagen vor dem großen Flachbildschirm saßen, um sich die düsteren Prognosen über Chinas wirtschaftliche Zukunft anzuhören. Aber sie taten einfach das, was der chinesische Staatsrat kürzlich von allen gefordert hat: Sich mehr freie Zeit nehmen, Geld ausgeben und die Binnenwirtschaft ankurbeln.

Am 11. August hat der Staatsrat etwa erklärt, er wünsche sich von den Arbeitgebern, dass sie ihren Leuten im Sommer jeden Freitagnachmittag frei geben, damit sie zum Beispiel Campen gehen können. Das ist nun kaum eine klassisch chinesische Antwort auf drohendes Elend: Weniger arbeiten. Aber genau das ist der Punkt: China will seine Wirtschaft nicht dadurch ankurbeln, dass sie noch mehr exportierbares Zeugs herstellt. Sondern indem es seine Bürger überredet, mehr Geld für Dinge wie Tourismus und Entspannung auszugeben. In der Hoffnung, dass damit die Nachfrageflaute in einem neuen, weniger industrieabhängigen China überwunden wird.

Im guten alten autoritären Stil haben die Mandarine also angeordnet, dass das Land mehr Caravan-Parks, Ski-Resorts und Kreuzfahrt-Terminals braucht - und 57.000 neue oder renovierte Toiletten bei den Touristenattraktionen.

Die Toiletten stehen tatsächlich ein bisschen im Mittelpunkt. Die 12-jährige April Pan schafft es sogar, sich vom Nachmittagsfernsehen loszureißen, um das Örtchen und das benachbarte Bad in den höchsten Tönen zu loben. April ist nach Chongming gekommen, um mit ihrem Vater und ihren 5-jährigen Bruder zum ersten Mal ein Wohnmobil auszuprobieren. Mit dem Bruder wird sie die Mini-Kojen teilen. Chen Lina ist mit ihrem Mann, ihrer Tochter und der Großmutter im Park (eine klassische Kombination in Chinas Wohnmobil-Welt). Wie alle, die wir treffen, sind sie Neulinge in Sachen Recreational Vehicle. "Ich wusste gar nicht, dass es ein Bad da drinnen gibt" sagt April, die auch erklärt, dass die Toilette ihr "Lieblingsraum" sei.

Die RVs sind nicht billig, der Kauf eines solchen Mobils kann locker eine halbe Million Renminbi kosten, über 70.000 Euro. Und selbst eine Übernachtung im Mietmobil in Chongming kann am Wochenende 900 Renminbi (gut 125 Euro) und mehr kosten, so viel wie ein Zimmer im Luxushotel (das allerdings nicht die Freuden einer chemischen Toilette bereithält). Dabei sind die 90 fest installierten Wohnwagen des Parks an den Wochenenden im Sommer trotzdem meist ausgebucht.

Das Gerät, das die Wohnwagen-Fans in anderen Ländern so lieben, gibt es hier übrigens nicht: In den Fahrzeugen, die wir gesehen haben, gab es keinen Kocher. Andererseits besteht einer der Vorteile des hier so beliebten stationären RV Campings darin, dass man sich keine Gedanken machen muss, wo denn der Inhalt der Toilette zu entleeren ist.

Sorglos entsorgt

Da ich selbst ein echter RV-Fan bin, war die erste Frage, die ich in Chongming gestellt habe: Wo ist die "Entleerungsstation" des Parks? Die Angestellten an der Rezeption schauten mich verständnislos an. Niemand hatte diese Frage je gestellt. Der RV-begeisterte Zhou Yaming erklärt den Grund: "Ich benutze die RV-Toilette nur, wenn es nicht anders geht. Oder ich entsorge den Inhalt an einer Tankstelle." Wang Zhiqiang, ein Verkäufer im Centech RVing Club, sagt, dass die meisten Kunden es halt einfach irgendwo lassen.

Ich habe das neulich in Neuseeland so gemacht, und ein Wächter des Nationalparks sorgte (zu Recht) dafür, dass ich mich wie ein Soziopath fühlte. Aber in China scheint das einfach kein Thema zu sein. Ohne Zweifel wird der Staatsrat es eines Tages für geboten halten, auch dazu ein Dekret herauszugeben - hoffentlich, bevor zu viel RV-Müll seinen Weg in die bereits allzu stark duftenden Flüsse findet.

Herr Wang sagt, Chinas jüngstes Börsenpech könne dazu führen, dass einige Kunden jetzt nicht mehr die Liquidität haben, um eine halbe Million Renminbi in Cash für ein individuell gefertigtes RV auf den Tisch zu legen. Aber niemand rechnet damit, dass dieser Markt in der nahe Zukunft irgendeine andere Richtung kennen wird als die nach oben.

Es sieht so aus, als habe jemand vergessen, den RV-Enthusiasten zu sagen, dass ein wirtschaftlicher Kollaps bevorsteht.

Copyright The Financial Times Limited 2015

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