Teil III
"Wer die Redewendung "Die Zeit vergeht wie im Fluge" geprägt hat, hat mit Sicherheit noch nie in einem Flugzeug nach Thailand gesessen. Denn seltsamerweise vergeht die Zeit beim Fliegen überhaupt nicht. Hier schien sie zu kriechen. Wenn Philip aus dem Fenster sah, erblickte er undefinierbare Landmassen unter sich, Wüsten und Flüsse, die sich wie glitzernde Bänder durch das Land schlängelten. Auf Seen, so groß wie Centstücke, funkelte die Sonne, die sich hinter dem Flugzeug langsam dem Horizont entgegensenkte. Durch die Zeitverschiebung hatte die Zeit als Ansatzpunkt sowieso jeden Hauch von Wirklichkeit verloren.
Nachdem die Stewardess das Essen serviert hatte und im Flieger etwas Ruhe einkehrte, wollte Norbert von Philip wissen, was er denn in dem Handelsbüro den ganzen Tag so mache. Er erfuhr, dass die Trader hier als eigenständige Einheit gesehen wurden. Man ließ ihnen freie Hand, vorausgesetzt natürlich, ihre Ergebnisse stellten die Mandantschaft zufrieden. "Der Name Eigenhandel dagegen rührt daher, dass Händler mit dem eigenen Geld des Büros arbeiten", erläuterte Philip. "Somit genießt der einzelne Trader alle Vorteile einer selbstständigen Tätigkeit, ohne sich mit den profanen Einzelheiten einer tatsächlichen Selbstständigkeit beschäftigen zu müssen."
"Du bestimmst deine Arbeitszeit selbst?"
"Ja, ich kann nach Lust und Laune reisen und mich meinen persönlichen Interessen widmen", erwiderte Philip. Er wusste, dass Trading für Menschen, denen manuelle Arbeit nicht lag und die außerplanmäßige Meditationen liebten, ein Paradies war. Philip liebte die Anonymität des Börsenhandels, denn sie entsprach seinem Wesen. Er wollte nur seinen Spaß haben und nicht im Wettbewerb mit Hunderten von anderen Leuten stehen. Er schätzte sich zutiefst glücklich, dass ihm jeglicher wettbewerbsorientierte Machthunger fehlte.
"Und da macht ihr den ganzen Tag Analysen von Nachrichten?"
Philip winkte kategorisch ab. "Nix da. Nur Technische Analyse", und schaute hinüber zu seiner Göttin.
Bernd 13 hatte sich rücklings auf seinen Sitz gekniet und klärte Norbert auf: "Technische Analyse, das ist das mit diesen Trendlinien und Indikatoren." Er reckte beide Daumen nach oben. "Hey, diesmal hab ich dir was beigebracht!"
Philip schmunzelte. Es war doch immer wieder nett, dass ein Börsenneuling, wie er selbst einst auch, die Technische Analyse grundsätzlich nur mit Widerstand und Unterstützung in Verbindung brachte und dann sofort an diese "Indikatoren-Dinger" dachte.
"Na, nicht ganz. Aber so in die Richtung ..." Philip versuchte, um weitere Fragen herumzukommen, konnte jedoch Norberts verständnislosem Blick nicht ganz standhalten. "Wir handeln nach Markttechnik."
Heiliger Gral der Technischen Analyse
"Nach Markttechnik, aha?!" Norbert blickte fragend Bernd 13 an, aber der konnte diesmal auch nicht aushelfen und zuckte nur mit den Schultern. "Und was soll das sein?"
"Na ja, das Fundament der ganzen Technischen Analyse."
"Ah so, das Fundament! Ja dann ..." Norbert deutete auf die Fluginformationen auf dem kleinen Bildschirm im Vordersitz und bettelte: "Wir haben ja noch etliche Kilometer lang Zeit. Da gibt es doch bestimmt das eine oder andere tolle Signal, das auf deinem Fundament aufbaut und das du uns beibringen könntest, oder? Bitte!"
Bernd 13 nickte und fand anscheinend auch, dass ein superheißer Tipp in Sachen Technische Analyse nichts schaden könnte.
Ein paar Minuten lang zierte Philip sich noch, dann ließ er sich schließlich erweichen und spuckte es aus, das große Trader-Geheimnis. Kategorie: Heiliger Gral! Geheimnistuerisch flüsterte er Norbert und Bernd 13 zu: "Okay, aber ihr dürft es keiner Menschenseele sonst verraten!" Philip schaute sich um und raunte – absichtlich übertrieben – verschwörerisch: "Dieses Rezept wurde über viele Generationen von einer Trader-Generation zur nächsten weitergegeben. Hiermit seid ihr offiziell eingeweiht."
"Ja, ja! Kannst dich auf uns verlassen", wisperte Bernd 13.
"Da wir nur noch ein paar Stunden Flugzeit haben, müssen wir zur verschärften ultrakonzentrierten Version, quasi zur Essenz der Essenzen greifen. Also, hört gut zu –"
"Yep", kam es im Doppelpack.
"Ihr müsst –" "Jaaaa?" "Ihr müsst lernen, euch zu fragen –" "– Jaaa?" "– warum nach eurer Positionseröffnung andere Marktteilnehmer ebenfalls in eure Richtung handeln sollten!" "Moment mal, wie jetzt? D-A-S ist alles?" Philip erntete nachdenkliche Blicke.
Überraschenderweise klang das große Trader-Geheimnis längst nicht so geheimnisvoll, wie von Bernd 13 erwartet. Trotzdem bedankte er sich überschwänglich, ohne dass er mit der Aussage konkret etwas anfangen konnte.
Lieber Himmel! Wir reden hier vom Börsenhandel, nicht von einer Atombombe.
Beide drängten Philip schließlich zu erklären, was er damit meinte. Philip war inzwischen etwas verärgert darüber, mit welcher Selbstverständlichkeit die beiden ihn mit Beschlag belegten und über seine Zeit verfügten. Andererseits erinnerte er sich an seine ersten Treffen mit einem, der Bescheid wusste. Auch er war damals neugierig gewesen, und diese Neugierde lag in den weißen Flecken in Hofners Ausführungen begründet, die ihn genauso stark beschäftigten wie die weißen Stellen auf der Landkarte Afrikas die Entdecker des 19. Jahrhunderts.
"Hmm ..." Philip wiegte den Kopf. "Das ist nicht mal eben so zu erklären"
"Komm schon", unterbrach ihn Norbert. "Was willst du sonst die nächsten Stunden machen?"
Schlafen, essen, mein Buch lesen, aus dem Fenster schauen, Tagebuch vervollständigen ... Philip sah zu seiner Angebeteten auf der anderen Seite der Maschine hinüber, die gelangweilt in einem Magazin blätterte ... vielleicht mit einer interessanten – oder gar interessierten? – Frau flirten ... "Los, komm schon, mir ist langweilig. Dir doch bestimmt auch?"
Geister, die ich rief ... Na, was soll’s. Ich hätte ja auch den Mund halten können eben. Selbst schuld also ...
"Charts kennt ihr?", fing Philip seine Minilektion hoch über den Wolken an. "Klar." Eifrig beugten sich Norbert und Bernd 13 vor. Philip wandte sich direkt an Bernd 13. "Und warum schaust du drauf?" "Wie, warum schau ich drauf?" Bernd 13 verstand nicht recht.
Okay, anders.
"Hast du dich mal gefragt, was du beim Betrachten eines Charts suchst?" "Den aktuellen Kurs." "Dafür brauchst du keinen Chart!" "Nicht?" "Nein."
Stille.
"Ja, wie jetzt? Wo kriege ich denn dann die aktuellen Kurse her?"
Bernd 13 ahnte nicht, worauf Philip hinaus wollte.
"Na, dafür könntest du auch den Fernseher benutzen oder Internet oder Kurslisten ..." "Verstehe, verstehe", unterbrach Bernd 13 Philips Aufzählung. "Na ja, ich schau mir das Ding an und sehe, wo der Kurs schon mal war", gab Norbert nun zum Besten. "Das geht noch genauer!" Alle Antworten – zum Beispiel, um an der Historie Signale abzugreifen, um Indikatoren zu errechnen oder wiederkehrende Kursmuster aufzustöbern – quittierte Philip mit einem Kopfschütteln. Schließlich brach Philip das Ratespiel ab und wollte stattdessen Auskunft darüber haben, was nun das Endziel jeglicher Technischen Analyse sei; denn jeder, der einen Chart betrachtete, betrieb diese ja in irgendeiner Form.
"Mannomann. Um Trendlinien einzuzeichnen, um dann zu wissen, wo es hingeht!", flog auf einmal als Antwort zu Philip herüber.
"Brecht das weiter auf den Ursprung herunter", forderte Philip und wollte Bernd 13 weiter zur Quelle aller Anwendungen der Technischen Analyse führen. Philip merkte aber, dass das so nichts wurde und dass er Schwierigkeiten haben würde, die Fragen zur Technischen Analyse in aller Schnelle zu beantworten, ohne die notwendigen, überlebenswichtigen Hintergrundinformationen zu liefern. Er brauchte eine bessere Veranschaulichungsmethode. Eine bildlichere."