Der Wohnungsbau steckt in der Krise, verzweifelt Suchende zieht es daher vermehrt raus aus den Städten. Aber ist das gleich die große neue Landlust?
Derzeit wächst beim deutschen Wohnungsbau nur eines: der Stapel der stornierten Aufträge und der abgesagten Neubauvorhaben. Dabei zählt die Baubranche schon so viele gestoppte Projekte wie noch nie seit 1992: Mehr als jede fünfte Baufirma hat laut Erhebungen des Ifo-Instituts Neubauprojekte abgesagt. Fast die Hälfte der Branchenunternehmen klagt über weggebrochene Aufträge. Und knapp zwölf Prozent räumen bereits ein, dass sie Probleme mit der Finanzierung haben. Die ersten aufsehenerregenden Pleiten von Bauträgern gab es bereits. Nun aber droht eine Baukrise größeren Ausmaßes – und die wird sowohl für die Großstädte als auch für ländliche Regionen spürbare Effekte haben.
Denn wenn der Neubau von Wohnungen allerorten stockt, heißt das zuerst einmal, dass in den Zentren noch mehr Wohnraum fehlt als ohnehin schon. Dadurch wird sich auch der Effekt verstärken, den Bevölkerungsforscher seit zwei bis drei Jahren verstärkt beobachten: Es ziehen mehr Menschen raus aus den Stadtzentren – und immer mehr von ihnen drängen hinein ins Umland der Großstädte, aber auch immer weiter hinaus in ländlichere Gebiete.
Eine aktuelle Studie des Berlin Instituts für Bevölkerung und der Wüstenrotstiftung drückt das so aus: „Die Menschen zieht es wieder in ländliche Räume. Noch vor gut zehn Jahren zogen Menschen vor allem in Großstädte mit mehr als 100.000 Einwohnerinnen. Aus Landgemeinden und Kleinstädten zogen mehr Menschen fort als hin. Heute zeigt sich ein anderes Bild. Mittlerweile zählen auch viele Dörfer und Kleinstädte zu den Wanderungsgewinnern.“
Damit verbunden sind zwei spannende Fragen, die den Wohnungsmarkt bewegen: Haben wir es hier mit einer neuen Landlust zu tun, die anhalten wird und das Leben im ländlichen Raum wieder attraktiver machen könnte? Und entspannen sich die städtischen Wohnungsmärkte dadurch – obwohl dort so viele Wohnungen fehlen und der Bau stockt?
Übers gesamte Land gesehen herrscht in der Bundesrepublik zurzeit kein wirklicher Wohnraummangel, stellen die Immobilienökonomen des Wirtschaftsforschungsinstituts IW fest – Wohnungen seien nur falsch verteilt. Während viele Häuser und Gebäude in ländlichen Gebieten und Schrumpfungsregionen leerstehen, kann in den Metropolen seit Jahren nicht so schnell gebaut werden, wie dort die Bevölkerung wächst. Ist es also gar nicht so schlimm, dass in den Städten nicht mehr gebaut wird, weil demnächst sowieso alle raus aufs Land ziehen?
Die These von der neuen Landlust
Viele Medien und auch die aktuelle Studie sprechen zwar gern von einer „neuen Landlust“. Aber man muss hier differenzieren: Zwar stimmt es, dass seit ein paar Jahren in Summe mehr Menschen, vorwiegend junge und mittelalte Familien, aus den direkten Zentren der Großstädte hinausziehen. Aber wo ziehen die hin? Die allermeisten davon in die direkten Speckgürtel eben dieser Städte, also in angrenzende Nachbargemeinden. Manche auch ins etwas weitere Umfeld, das aber mit Verkehrswegen eng an die jeweilige Metropole angebunden ist. So richtig aufs Land wagen sich noch immer die allerwenigsten.
Zudem sammeln zwar auch kleine Orte und abgelegene Dörfer inzwischen wieder ein paar neue Einwohner, ihr „Wanderungssaldo“ ist also positiv, wie es in der Fachsprache heißt. „Die Binnenwanderung im ländlichen Raum war 2021 erstmals positiv“, heißt es beim IW – weil mehr Menschen dort hinziehen als wegziehen. Darauf stellt die Berliner Studie sehr stark ab. Doch in Summe schrumpfen die meisten dieser ländlichen Orte demographisch dennoch, weil mehr Einwohner sterben als neu hinziehen.
In den Großstädten dagegen ist es genau anders herum: Dort gibt es neuerdings sogar einen leichten Geburtenüberschuss und zudem positive Wanderungssalden, weil die Zahl der ausländische Zuzügler die Zahl der bereits ansässigen Hinausziehenden weit übersteigt.
Insgesamt nämlich, so sagen es die Zahlen des Statistischen Bundesamts, wuchsen die hiesigen Großstadtregionen von 2012 bis 2021 um rund 2,5 Millionen Menschen, das entspricht einem Bevölkerungszuwachs von 4,4 Prozent in den Metropolen (samt deren Umland). Im Rest der Republik (also im eher ländlichen Raum) wuchs die Bevölkerung ebenfalls, doch nur um überschaubare 0,9 Prozent. Im Grunde also wohnen jetzt flächendeckend überall mehr Menschen, weil die Gesamtbevölkerung so stark angestiegen ist, wie es Demographieforscher zuvor nicht für möglich gehalten hatten.
Die Bevölkerung in den Städten wächst trotzdem
Doch dass nun mehr Menschen aufs Land ziehen als in die Städte, kann man daraus nicht folgern. Stolze 71 Prozent der Bevölkerung lebt in Großstädten, das sind 59 Millionen Bundesbürger, so viele wie noch nie. Und immerhin 40 Prozent davon leben auch mitten in den Zentren. Neuere Zahlen als jene von 2021 liegen übrigens nicht vor, auch die Berliner Studie bezog sich nur auf diesen Zeitraum, der zudem noch stark von den Effekten der Corona-Pandemie geprägt war. Es könnte daher theoretisch sein, dass sich der Zug aufs Land nur in den beiden Jahren 2020 und 2021 zeigte, also nur in den beiden letzten bisher erfassten Jahren der Statistik. Ob sich also auch nach Ende der Lockdowns eine starke Wanderung in ländlichere Gebiete beobachten lassen wird und ob sich daraus ein Trend ableiten lässt, bleibt abzuwarten.
Entscheidend dafür dürfte sein, aus welchen Gründen die Menschen von den Zentren in die Speckgürtel und Umlandgemeinden ziehen. Sind es eher Push- oder eher Pull-Effekte, die Menschen aus den großen Städten abwandern lässt? Werden sie also aus den Zentren herausgedrängt – oder werden sie vom ländlicheren Leben angezogen? Das versuchten bisher einige Studien durch Beobachtungen und Befragungen zu beantworten, auch die des IW. Und da darf man zweifeln, ob es die „neue Landlust“ so wirklich gibt.
Denn die wahrscheinlichste Erklärung lautet: Bis zum Beginn der Coronapandemie war die Wanderung hauptsächlich preisbedingt. Weil viele junge Familien die steigenden Immobilienpreise (für Kauf und Miete) in den Großstädten nicht mehr stemmen wollten oder konnten, sahen sie sich in den angrenzenden Gebieten nach neuem Wohnraum um. Und zwar zunächst in den direkt angrenzenden Gebieten und erst danach – gezwungenermaßen sozusagen – in den entlegeneren Gegenden der Metropolregionen. Dort leisteten sie sich dann häufig größere Wohnungen, zu zumeist günstigeren Preisen. Das ist ein klassischer Push-Effekt.
In kleineren Metropolen bleiben die Menschen eher
Ein weiterer Beleg für den Push-Faktor Preise ist der Umstand, dass die höchste Abwanderung in den Top-7-Großstädten zu finden war – hier gibt es auch die höchsten Immobilienpreise. Schon in der zweiten Reihe der Metropolen aber ist die Abwanderung weitaus geringer, so das IW. Wo die Immobilien bezahlbarer waren, wanderten die Menschen also deutlich weniger ab. Auch die Befragten der Berliner Studie bestätigten das: Auf die Frage, was sie aufs Land getrieben habe, nannten die meisten die hohen Wohnpreise in den Städten. Erst danach rangierte die Antwort: „Die Kinder sollen auf dem Land aufwachsen.“
Seit der Coronapandemie hat zudem die Möglichkeit zum Homeoffice das Leben auf dem Land attraktiver gemacht. Allerdings bemängeln Studienteilnehmer in Umfragen häufig mangelhafte Internetverbindungen. Das erschwert einerseits die Berufsausübung, andererseits auch die sozialen Kontakte.
Vielsagend sind auch die Antworten auf die Frage, was dörfliche Orte attraktiv mache. Die Berliner Studie fragte das die neu Hinausgezogenen, die wirklich aufs Land zogen (und nicht nur in den Speckgürtel). Die häufigsten Rückmeldungen: ein Autobahnanschluss und ein guter Bahnanschluss, dazu Betreuungsmöglichkeiten für die Kinder und ein breites Wohnungsangebot. Alles nicht gerade typische Feautures des Landlebens. Zudem sagten etliche neue Landbewohner selbst, sie müssten noch „lernen“, sich in dörfliche Strukturen wie Vereine und Nachbarschaft zu integrieren. Eine schrumpfende Zahl von Begegnungsstätten wie Kneipen, Gaststätten und örtliche Lebensmittelläden, die sich aus der Statistik ableiten lässt, macht es ihnen jedenfalls nicht gerade leicht.
Es ist eher der große Stadtfrust
Man kann es also eher so ausdrücken: Es gibt keine neue Landlust, sondern eher Stadtfrust, der die Menschen notgedrungen an die Stadtränder und in deren Umlandgemeinden treibt. Das war zumindest in den Spätjahren des Immobilienbooms so. Und weil die Preise seitdem zwar gefallen, die Finanzierungszinsen aber enorm gestiegen sind, ist Wohnraum in Innenstadtlagen trotz des Konjunktureinbruchs am Bau nicht erschwinglicher geworden. Daher wird der Verdrängungseffekt wohl anhalten.
Und schlimmer noch: Die jetzige Krise am Bau, die dafür sorgt, dass der Neubau über Jahre stocken oder zumindest stottern wird, dürfte schon bald dafür sorgen, dass Wohnraum in den Städten noch knapper wird, weil der Zuzug aus dem Ausland anhält – und damit wieder teurer. Entspannen werden sich also die Metropolenmärkte nicht. Die Lage im Umland aber auch nicht.
Denn allein der Wohnungsbau sei der „zentrale Hebel zur Minderung der Anspannungen“, betonen die Forscher des IW. Da viele Großstädte derzeit weder im Innenraum noch in Außenbezirken neue Wohnquartiere entwickeln, wird der Überschwappeffekt ins Umfeld anhalten. Samt der negativen Konsequenzen, die er dort hat. So wird mehr Fläche versiegelt, weil weniger dicht gebaut wird als in Ballungsräumen. Die Verkehrsinfrastruktur muss außerdem wachsen. Denn einstweilen wird auch dort gebaut, wo es noch keinen öffentlichen Nahverkehr gibt, weil dort die Preise noch günstig sind, also nimmt auch der Verkehrsdruck zu. Wer ländlich wohnt, ist schließlich stärker aufs Auto angewiesen und pendelt meist längere Wege zur Arbeit, auch mit Homeoffice.
Über Lösungen nachdenken
So richtig positiv ist das alles nicht. Auch wenn vielen schrumpfenden Orten natürlich zu wünschen wäre, dass dort das Dorfleben weitergeht. Helfen könnte, wenn die Politik zumindest das Wegbrechen des Wohnungsbaus verhindern würde – indem sie Überbrückungskredite für bereits geplante Bauprojekte ausreicht oder wenigstens verbilligte KfW-Kredite, die zurückgezahlt werden. Die Länder könnten Fördergelder zuschießen, die sie durch die stark gestiegenen Grunderwerbsteuern von der Branche und jedem Hauskäufer bereits selbst kassiert haben.
Grundsätzlich müssten dringend dort mehr Wohnungen neu gebaut werden können, wo die meisten Menschen wirklich auch wohnen wollen – also in den Ballungsräumen und möglichst stadtnah. Zudem benötigen Großstädte dringend mehr Kleinwohnungen, denn 80 Prozent der Haushalte dort sind Ein- oder Zweipersonenhaushalte. Gebaut werden aber zurzeit vorwiegend Großeinheiten mit vier oder noch mehr Zimmern, die Bauträger nicht mehr verkauft bekommen. Gäbe es mehr Kleinwohnungen zu bezahlbaren Preisen, würden auch wieder mehr größere Wohnungen frei, weil Verwitweten, Entpartnerten oder Eltern mit flügge gewordenen Kindern dann wieder umziehen können.
In den ländlicheren Regionen dagegen sollten die Kommunalpolitiker zusehen, dass sie bestehende Gebäude reaktivieren oder umwidmen. Indem sie nicht einfach neue Baugebiete ausweisen, sondern Leerstand wieder zu attraktivem Wohnraum machen, und kleinere Wohneinheiten für Ältere und Auszubildende schaffen. Denn längst nicht jeder dort will oder braucht gleich ein Einfamilienhaus oder eine Familienwohnung.
Generell müssen Städte und ländliche Gemeinden daran arbeiten, dass die Menschen wieder gerne dort wohnen: wo sie auch ihre Arbeit haben.