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Geldpolitik Zwischen Schulden- und Inflationsbekämpfung – das Dilemma der EZB

Das EZB-Gebäude in Frankfurt am Main
Das EZB-Gebäude in Frankfurt am Main
© IMAGO / Schöning
Es knirscht wieder in der Eurozone. Mehr noch, es besteht die Gefahr, dass die Lage im Vergleich zur letzten Eurokrise noch deutlich schwieriger wird. Die EZB stellt das vor eine Herausforderung: Bekämpft sie die Teurungsrate oder sichert sie den europäischen Zusammenhalt
Im Laufe der nächsten zwölf Monate blickt die Europäische Zentralbank (EZB) einer Herausforderung entgegen, die im Ausmaß der gleichen könnte, die sie vor knapp einem Jahrzehnt bei Ausbruch der Eurokrise der 2010er Jahre zu bewältigen hatte. Tatsächlich handelt es sich auch um die Fortsetzung eben dieser Krise, die trotz der dramatischen Ansage des damaligen EZB-Präsidenten Mario Draghi am 26. Juli 2012 „alles zu unternehmen”, um die gemeinsame Währungsunion zu retten, im Kern ungelöst blieb.
Die damalige Entscheidung der EZB, in einem bis dato ungekannten Maße Staatsanleihen aufzukaufen, konnte den massiven Zinsdruck auf die hochverschuldeten Mitglieder der Eurozone lindern und die Situation letztlich entschärfen. Nun führen steigende Energiepreise, Inflation und eine Regierungskrise in Italien jedoch dazu, dass der sogenannte „spread”, also die Differenz zwischen der Höhe der Zinsen, mit denen deutsche Staatsschulden im Vergleich zu sogenannten „peripheren” Staatsschulden, wie jenen Italiens oder Griechenlands, belastet werden, wieder stark steigt. Während die Differenz zwischen deutschen Bunds und italienischen Anleihen 2021 noch bei 1.15 Prozent lag, erreichte sie im Laufe dieses Jahres zeitweilig ihren höchsten Stand seit 2013.
Es knirscht also wieder im Räderwerk der Eurozone. Mehr noch, es besteht die Gefahr, dass sich die aktuelle Situation im Vergleich zur letzten Eurokrise noch deutlich diffiziler darstellt. Zum einen, weil das heutige Sorgenkind Italien heißt – die achtgrößte Volkswirtschaft der Welt und eines der sechs Gründungsmitglieder der Europäischen Union (EU) – und nicht das vergleichsweise kleine Griechenland. Zum anderen, weil der EZB das unter Draghi bewährte Instrument der massiven Anleihenkäufe nicht mehr ohne weiteres zur Verfügung steht. Es sind vor allem drei Faktoren, die zu einem deutlich anderen Lagebild führen und eine simple Wiederauflage der Maßnahmen, die vor zehn Jahren ein Auseinanderfallen der Eurozone verhinderten, nicht zulassen:
  1. Die höchste Inflationsrate seit Einführung des Euro.
  2. Ein andauernder Krieg in der Ukraine, der die Inflation befeuert und Ängste auf den globalen Finanz- und Kapitalmärkten schürt.
  3. Durchschnittlich eine höhere Staatsverschuldung im gesamten Euroraum als vor zehn Jahren, als die hohe Verschuldung öffentlicher Haushalte die erste Eurokrise lostrat.
Mit Blick auf die Handlungsoptionen der EZB ist der erste Faktor von besonderer Bedeutung. Die EZB hat angekündigt, ihrem Auftrag für Preisstabilität zu sorgen nachkommen zu wollen, und erhöht langsam, aber stetig den Leitzins, zuletzt sogar um 0.50 Prozent. Gleichzeitig hat die EZB-Präsidentin Christine Lagarde in der Manier ihres Vorgängers klipp und klar gesagt, dass sie nach wie vor für den Zusammenhalt der Eurozone einstehen wird. Diese zwei Ziele widersprechen sich. Denn den Kauf von Staatsanleihen zu stoppen und die Zinsen zu erhöhen, um die Inflation in den Griff zu bekommen, während de facto die Zusage gegeben wird, dass die Bepreisung der Anleihen kriselnder Euroländer gekappt werden, entspricht der Quadratur des Kreises. Dies erkennen auch die Märkte, die dazu eingeladen werden, diese widersprüchlichen Zielangaben der EZB einem Stresstest zu unterziehen.

Eine Frage der Prioritäten

Die Frage ist nicht, ob die EZB die Feuerkraft besitzt, um die gesetzten Ziele zu erreichen, sondern vielmehr welche Prioritäten sie setzt. Diese Frage der Priorisierung ist wiederum keine technokratische, sondern eine eminent politische.
Sollte sich der Krieg in der Ukraine weiter hinziehen und somit kein baldiges Ende der steigenden Lebensmittel – und Energiepreise in Sicht sein, wird sich der Widerspruch, der der aktuellen Position der EZB innewohnt, deutlicher zu Tage treten. Daran ändert auch das neue „Anti-Fragementierungsinstrument“ der EZB nichts, das bei „ungerechtfertigten, ungeordneten Marktdynamiken” den gezielten Aufkauf von kriselnden Staatsanleihen ermöglichen soll. Wann genau die „Marktdynamiken“ einen solchen Eingriff rechtfertigen, wurde offengelassen. Man kann aber davon ausgehen, dass die EZB im Ernstfall auf das bekannte Instrument des massiven Staatsanleihenkaufs zurückgreifen würde.
Abgesehen davon, dass die Zentralbank damit sehr deutlich ihr Mandat überschreiten würde, da die künstliche Senkung des Preises gewisser Staatsanleihen der in der Eurozone verbotenen Praxis der „monetären Finanzierung“ entspräche, würde sie auch die Bekämpfung der Inflation zurückstellen müssen.
Die globalen Finanzmärkte sind weder geduldig noch weitsichtig, sodass mit einer zeitnahen Zuspitzung des Dilemmas der EZB, gleichzeitig die Inflation einzudämmen und die Kosten der Finanzierung gewisser Staatschulden niedrig zu halten, durchaus zu rechnen ist. Bei der Auflösung dieses gordischen Knotens wird der Bundesrepublik, wie schon in den vorherigen Krisen des Euro, eine bedeutende Rolle zukommen.
Eine Maßnahme, die nicht nur das aktuelle Problem lösen, sondern eine langfristige Stabilisierung der Eurozone bewirken könnte, wäre die Einführung einer europäischen Schuldengarantie in der Form von gemeinsamen Eurobonds. Dieser kontroverse Vorschlag ist hinlänglich bekannt und stößt in den liberalen und konservativen Kreisen Deutschlands auf verlässlichen Widerstand. Nur ist es so, dass die Beibehaltung einer strikten Ablehnung von Vorschlägen, die in die Richtung einer Vergemeinschaftung von Schulden in Europa gehen, Gefahr läuft, die EZB in die Lage zu bringen, eine Stabilisierung des Euro auf Kosten der Bekämpfung der Inflation vornehmen zu müssen. Somit müsste die Bundesrepublik hinnehmen, dass die Inflation – historisch ihr Albtraum – auf einem intolerablen Niveau länger anhält und ihre Wiederkehr mit der Loslösung zukünftiger Inflationserwartung wahrscheinlicher wird.
Ein möglicher Kompromiss könnte darin liegen, eine gemeinsame Haftung auf neu auszugebende Anleihen zu beschränken und nur unter Auflage enggezurrter fiskalpolitischer Auflagen zu gewähren. Die vertraglichen Details eines solchen Vorgehens müssten innovativ gestaltet werden, jedoch würde das Arrangements wie folgt funktionieren: Wenn ein Euro-Staat nach Ausgabe einer gemeinschaftlichen Anleihe die festgelegten Kriterien ohne Genehmigung der Gemeinschaft verletzt, greift die gemeinschaftliche Haftung nicht – ein wirksamer Hebel, um eine verantwortungsvolle Fiskalpolitik von allen Mitgliedern des Euro einzufordern.
Letztlich würde die Bundesrepublik im Gegenzug für ihre Kompromissbereitschaft in der Frage der gemeinsamen Schuldenhaftung die Sicherheit bekommen, dass im Euroraum strengere fiskalische Regeln gelten und die EZB sich zuvorderst auf ihre Kernaufgabe der Gewährung von Preisstabilität konzentriert. Im Anbetracht der Vielzahl von Krisen, mit denen sich Europa gegenwärtig konfrontiert sieht, wäre es schlicht unverantwortlich, die ungelösten Probleme des Euro weiterschwelen zu lassen. Es besteht dringender Handlungsbedarf.

Lukas Paul Schmelter studierte Geschichte und Politikwissenschaften in London, Cambridge und Peking, wo er Stipendiat des Schwarzman Scholars Programms war. Aktuell ist er Ernest May Fellow in History and Policy am Belfer Center der Harvard Kennedy School.

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