Wir Deutsche investieren gern in die Aktien von deutschen Unternehmen. Gibt es bei Anleihen einen ähnlichen Home Bias?
JOHN BUTLER: Nein, ganz im Gegenteil. In den vergangenen 20 Jahren haben deutsche Investoren mehr als 8 Billionen Euro außerhalb Deutschlands am Rentenmarkt investiert. Das waren vor allem institutionelle Investoren wie Versicherungsgesellschaften.
Wo floss das Geld hin?
Im Detail ist dies schwierig zu verfolgen. Aber zu erkennen sind enorme Investitionsströme von deutschen und auch niederländischen Anlegern in die USA, allerdings weniger in Staatsanleihen, sondern vielmehr in Unternehmens- und Hochzinsanleihen. Überproportional profitiert von Zuströmen haben auch die Märkte für Staatsanleihen im Vereinigten Königreich, Schweden und Australien, wo es höhere Renditen gab.
Was war der Grund für die enormen Abflüsse?
Seit den Wirtschaftsreformen unter dem früheren Bundeskanzler Gerhard Schröder war Deutschland sehr wettbewerbsfähig und erzielte enorme Leistungsbilanzüberschüsse. Diese Ersparnisse wurden nicht im Inland, sondern international angelegt. Bis zur Euro-Staatsschuldenkrise fanden die Investoren Rendite in Italien oder Portugal, dann kam die quantitative Lockerung der Europäischen Zentralbank, also deren großvolumigen Anleihenkäufe. Es ging der EZB seinerzeit darum, Investoren zum Verkauf ihrer Bundesanleihen zu bewegen. Diese gingen deshalb auf die Suche nach Ersatz-Anlagen. Ersparnisse aus Deutschland oder Japan flossen in den 2010er-Jahren in Defizitländer wie die USA, das Vereinigte Königreich oder Australien, die höhere Zinsen boten.
„Deutschland wird weniger Ersparnisse haben“
Haben deutsche Sparer also, etwas vereinfacht gesagt, den Wirtschaftsaufschwung in den USA finanziert?
Das kann man so sagen, jedenfalls neben den US-Investoren selbst. Auf jeden Fall haben großvolumige Anleihe-Emissionen das starke Wachstum der US-Wirtschaft unterstützt, und die wurden eben auch von deutschen Investoren gezeichnet, insbesondere seit dem Beginn der Euro-Staatsschuldenkrise vor mehr als zehn Jahren.
Wenn es die Suche nach Rendite war, die deutsche Investoren in alle Welt trieb, müssten sie mit der Rückkehr der Zinsen doch auch an den Heimatmarkt zurückkommen?
Da man jetzt in Europa wieder Rendite am Anleihenmarkt erzielen kann, könnten Investoren hier auch wieder ein Zuhause für ihr Geld finden. Tatsächlich wird es aber nicht so sein.
Warum das?
Deutschland hat etwas an Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt und wird deshalb voraussichtlich in Zukunft kleinere Leistungsbilanzüberschüsse und damit Ersparnisse haben.
Dann würde die Wirtschaftsschwäche Chinas und die zwischenzeitlich teure Energie über die deutsche Konjunktur also auf den globalen Anleihemarkt wirken?
Das sind zwei wichtige Punkte, denn Deutschland hat in den vergangenen Jahrzehnten überdurchschnittlich stark von einem offenen Weltmarkt profitiert. Ein weiterer Punkt ist die Schwäche des Yen, der die japanische Konkurrenz viel wettbewerbsfähiger gemacht hat, gerade bei Investitionsgütern. Der vierte Grund ist der Anstieg der Arbeitskosten in Deutschland, bei denen es lange Zeit global konkurrenzfähig war. Das betrifft vor allem die Industrie und ist eine Folge der deutlich gestiegenen Lebenshaltungskosten. Mit dem höheren Mindestlohn hat das nichts zu tun, auch wenn der einen Haarschnitt bei einem Friseur bei ihnen in Frankfurt teurer gemacht hat.
Wenn Deutschland weniger Überschüsse erzielt, welche Folgen hat das für andere Länder?
Für China und Japan gilt ähnliches. Das waren die drei großen Volkswirtschaften mit hohen Ersparnissen, welche die globalen Anleihemärkte finanzierten. Fallen diese Ersparnisse weg, wird es schwieriger für Defizitländer wie Großbritannien, ihren Lebensstandard zu halten. Schon nach dem Brexit-Votum sank die Bereitschaft von Investoren zur Finanzierung des britischen Leistungsbilanzdefizits, doch bislang war es für das Land noch immer möglich mit relativ niedrigen Renditen Kapital anzuziehen und das Defizit aufrechtzuerhalten. Das könnte sich jetzt ändern: Die Briten müssen ebenso wie die Amerikaner entweder ihre Defizite reduzieren, mit höheren Zinsen Kapital anlocken oder ihre Währungen deutlich abwerten.
Die Inflation bleibt höher als in der Vergangenheit
Im Ergebnis hieße das alles: weniger Wachstum und mehr Inflation?
Tendenziell stimmt das. Man muss aber auf das Phänomen global schauen wegen der vernetzten Kapitalströme. Es gibt auch Argumente gegen diesen Trend. China befindet sich in einem ausgeprägten Prozess der Disinflation und Künstliche Intelligenz könnte der Beginn einer Revolution sein, welche die Produktivität deutlich steigen lässt.
Müssen die Defizitländer wie die USA ihre Staatsausgaben senken?
In den meisten Ländern ist die Fiskalpolitik noch immer sehr locker und eine Liste von Dingen, für sie viel Geld ausgeben wollen wie Verteidigung und den Übergang zu klimafreundlicher Energieerzeugung. Ein Punkt, der oftmals übersehen wird: Wenn die Inflation noch hoch und die Arbeitslosigkeit niedrig ist, dann hat eine lockere Fiskalpolitik fast immer zu höherer Inflation in der Zukunft geführt.
Warum in der Zukunft?
Hohe Staatsausgaben führen dazu, dass die Wirtschaft weiter gut läuft und die Inflation sich deshalb nicht abkühlt. Die meisten Länder haben viele Jahre von der Globalisierung, also von billigen Importen profitiert. Diese Ära ist zu Ende und trotzdem wollen die Länder ihre Nachfrage ankurbeln. Das wird die Inflation höher halten als in der jüngeren Vergangenheit.
Deutschland hat sich die Schuldenbremse in die Verfassung geschrieben und muss diese jetzt einhalten. Was hat das für Folgen für den Anleihemarkt?
Deutschland war etwa ab 2010 das einzige Industrieland, das seine Schuldenquote im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung gesenkt hat. Es hat also wenig Staatsanleihen emittiert, die auch noch von der EZB gekauft wurden. Früher oder später dürfte es deshalb eine Debatte in Deutschland über die Schuldenbremse geben angesichts des hierdurch eingeschränkten Spielraums für Finanzierungen am Anleihemarkt.