Herr Roemheld, ein wichtiger Faktor für die Entwicklung der Aktienkurse sind die Unternehmensgewinne. Im vergangenen Jahr sind die Geschäfte für viele Unternehmen schlecht gelaufen, die Kurse sind aber dennoch gestiegen. Woran lag das?
Die Gewinnerwartungen sind nur eine Komponente für die zu erwartende Kursentwicklung. Je kurzfristiger der Betrachtungszeitraum ist, desto mehr werden die Aktienkurse von anderen Entwicklungen überlagert, die sich dann in den Bewertungsverhältnissen ausdrücken. 2020 hat die Gewinnentwicklung nahezu keine Rolle für die Aktienmärkte gespielt: Den deutlich fallenden Gewinnen standen drastische geld- und fiskalpolitische Maßnahmen gegenüber. Sie treiben die deutlichen Kurssteigerungen maßgeblich.
Wird sich dieser Trend fortsetzen?
Solange die Unterstützung der Geld- und Fiskalpolitik anhält, sollten die Aktienkurse weiterhin gut unterstützt sein. Im Falle weiterer Fiskal- und Hilfsprogramme sowie positiver Nachrichten hinsichtlich der Impfstoffentwicklung und -versorgung sehe ich durchaus noch weiteres Aufholpotenzial, insbesondere bei den zyklischen Werten. Da diese in den europäischen Indizes höhere Gewichte haben als beispielsweise in den USA, spricht das gemeinsam mit der zu erwartenden Gewinnentwicklung für eine im relativen Vergleich bessere Entwicklung der europäischen Märkte.
Welche Erwartungen haben Sie an die Entwicklung der Unternehmensgewinne?
Bei einem genaueren Blick ergeben sich sehr große Abweichungen in den Schätzungen zwischen 2020 und 2021. Die Gewinne gingen im vergangenen Jahr bekanntermaßen deutlich zurück. In Europa werden sie in diesem Jahr nach unseren Schätzungen ebenso deutlich zulegen – und zwar stärker als in den USA. In Europa, betrachtet ohne das Vereinigte Königreich, erwarten wir ein Gewinnwachstum für 2021 von rund 50 Prozent, während die Gewinne in den USA nur etwas mehr als 20 Prozent gesteigert werden dürften. In Asien rechnen wir mit etwa 30 Prozent Wachstum. Diese Zahlen sind natürlich noch von starken Unsicherheiten geprägt.
Sie sprachen von den zyklischen, also konjunktursensiblen Werten. Vermutlich werden bei ihnen die Gewinne also stärker steigen?
Genau. Wir erwarten global die mit Abstand höchsten Wachstumsraten für die eher zyklischen Branchen wie Energie (plus 130 Prozent), Diskretionärer Konsum (plus 72 Prozent) und Industriewerte (plus60 Prozent). Am schwächsten dürfte die Erholung der Gewinne voraussichtlich bei Versorgern (plus 13 Prozent), den Gesundheitswerten (plus 14 Prozent) und den Basiskonsumgütern (plus 12 Prozent) ausfallen.
Und in Europa?
In Europa ohne das Vereinigte Königreich fallen die Schätzungen beim Diskretionären Konsum, für den Automobilbereich und den Einzelhandel am höchsten aus, während die Pharmawerte und der Lebensmittel-Einzelhandel die geringsten Wachstumsraten aufweisen.
Das klingt alles sehr optimistisch. Welche Risiken bestehen im neuen Jahr für diese Prognose?
Risiken bestehen einerseits in deutlich größeren und zum Teil irreparablen Folgeschäden der Pandemie, die aus heutiger Sicht noch in keiner Weise klar zu beziffern sind und die eine schnelle Erholung stark erschweren könnten. Andererseits gründet sich aktuell viel Hoffnung auf die schnelle und effektive Einführung von Impfstoffen. Sollte es bei dieser Entwicklung Verzögerungen oder andere Rückschläge geben, die ein baldiges Ende der Pandemie unwahrscheinlich machen, wäre das kurzfristige Korrekturpotenzial für die Kapitalmärkte hoch. Das größte Risiko sehe ich allerdings in einem Überschießen der Inflationsraten aufgrund der starken Geldmengenerhöhung und großer Fiskalprogramme, die neben der Tendenz zu mehr Protektionismus preistreibend wirken. Ohne die entsprechenden Gegenmaßnahmen der Zentralbanken wären stärker steigende Zinsen Gift für die Aktien- und Anleihemärkte.