Der deutsche Sachversicherungsmarkt ist hart umkämpft. Makroökonomische und gesellschaftliche Trends fordern die klassischen Geschäftsmodelle der Anbieter heraus. Wie Versicherungsunternehmen sich verändern müssen, um künftig noch zu wachsen, beantworten Corin Targan und Matthias Rosebrock von der Unternehmensberatung Deloitte und Mitherausgeber der Studie „Zukunftsmodell 2035: Szenarien der Sachversicherung“.
Capital: Verbraucher sind heute gewohnt, von Shopping bis Banking vieles nur noch online zu erledigen. Versicherungen bilden da die Ausnahme. Sie bieten oft keine vollständig digitalen Services an. Warum?
CORIN TARGAN: Das stimmt, Versicherungen sind sehr papierlastig. Verbraucher müssen ihre Dokumente immer noch in Papierform einreichen, selbst wenn der Versicherer ein digitales Kundenportal anbietet. Dass die Branche Verträge und Nachweise in Papierform einfordert, ist aber weniger eine Frage der Digitalisierung als der Regulierung.
MATTHIAS ROSEBROCK: Hinzu kommen die unterschiedlichen Bedürfnisse der Kunden. Ältere Menschen können mit digitalem Versicherungsservice oft wenig anfangen. Deshalb hat die traditionelle Papierform durchaus ihre Berechtigung. Der berühmte Versicherungsordner im Schrank ist für manche Kunden einfach bequem.
In Ihrer Studie schreiben Sie, dass Verbraucher im Vergleich zu früher anspruchsvoller geworden sind. Inwiefern?
TARGAN: Das betrifft vor allem die Beratung und Betreuung. Versicherungsvermittler müssen sich heute immer besser auskennen, um eine umfassende Beratung leisten zu können. Kunden informieren sich vorab online und erkennen schnell, wenn ihr Ansprechpartner Wissenslücken hat.
Was bedeutet das für die Zukunft von Maklern und Beratern in der Branche?
TARGAN: Was es eher nicht mehr geben wird, sind nebenberufliche Versicherungsvermittler, die aus dem privaten Wohnzimmer heraus im Bekanntenkreis Tarife vermitteln. Da wird es im Agentursystem eine Konsolidierung geben: weg von kleinen Maklern und Einzelkämpfern, hin zu professionell geführten Agenturen.
ROSEBROCK: Die Versicherungen werden aber sicher auch digitaler werden. Die Kunden wissen aus anderen Branchen, was beim Service heute möglich ist. Das färbt auf das Angebot der Assekuranz ab und wird dort ebenfalls erwartet. Die Kunden werden in Sachen Geschwindigkeit, Digitalisierung und Service anspruchsvoller.
Werden Kunden künftig überhaupt noch einen Makler brauchen, sollte die Digitalisierung der Branche erfolgreich voranschreiten?
TARGAN: Ich glaube, dass in 10 oder 20 Jahren Sachversicherungen nicht mehr als einzelne Policen von der Versicherung an den Kunden verkauft werden. Stattdessen werden die Produkte integriert sein in Plattformen oder Ökosysteme. Wer also über eine Mobilitätsplattform ein Fahrrad oder ein Auto ausleiht, erhält darüber auch gleich die passende Versicherung. Genauso beim Wohnen. Erste Unternehmen arbeiten schon an solchen Lösungen. Der Verbraucher wird dann nicht mehr selbst losgehen und eine Hausratversicherung kaufen.
Durch solche Komplettpakete verlieren Verbraucher aber ihre Marktmacht, individuelle gute Tarife und günstige Anbieter auszuwählen…
TARGAN: Aber es ist total praktisch. Der Kunde weiß, da ist immer eine Absicherung mit dabei. Niemand muss sich dann mehr Gedanken darum machen. Da schlägt Bequemlichkeit sicher die Auswahlmöglichkeit.
ROSEBROCK: Dahin ist es auch noch eine weite Reise, wenngleich viele Anbieter schon an solchen Ökosystemen arbeiten. Aktuell sind Agenturen und Makler aber klar der dominante Vertriebskanal. Der Online-Direktvertrieb liegt im Schnitt nur bei rund 15 Prozent.
Versicherungen sitzen auf einem Datenschatz, der sich durch neue Technologien viel besser nutzen lässt als früher. Wird das den Versicherungsschutz verändern?
ROSEBROCK: Produkte werden maßgeschneiderter und modularer. Ein Beispiel: Für eine Studentenbude lohnt sich eine Hausratversicherung nicht, aber ein Student kann sein teures Carbon-Rad versichern. Individuell auf meine Risiken und meine Bedürfnisse zugeschnittene Versicherungen, das wird immer häufiger ausprobiert. Es gab schon Ski-Versicherungen nur für die Urlaubswochen oder die Telematik beim Autofahren.
Bei den Telematik-Versicherungen beobachten und bewerten die Anbieter das Fahrverhalten. Bedeutet das also, dass die Überwachung von Kunden weiter zunehmen wird?
TARGAN: Die Deutschen sind aktuell noch sehr skeptisch, wenn sie ihre persönlichen Daten teilen sollen. Das ist eine Hürde für solche Angebote. Wenn Produkte im Internet of Things vernetzt werden oder wenn man Sensoren zu Hause im Privatleben nutzen möchte, schwingt immer die Frage mit: Was wird mit meinen Daten gemacht und was bekomme ich für sie? Die junge Generation ist dafür aber sicher offener.
Führen solche Datenpools vielleicht dazu, dass Policen durch passgenaue Tarife günstiger werden?
TARGAN: Da kommt es darauf an, was die Daten aussagen und wie die Versicherer mit ihnen umgehen. Im Versicherungskollektiv gleichen sich hohe und niedrige Risiken aus, sodass alle versichert werden können. Wenn Versicherer jetzt durch die gesammelten Daten in der Lage sind, für jeden Einzelnen das Risiko abzubilden, kündigt das natürlich das Versicherungskollektiv auf. Das könnte dazu führen, dass für einen Teil der Versicherten die Tarife teurer oder sogar unbezahlbar werden. Man muss schauen, dass durch die Individualisierung der Grundgedanke des Versicherungskollektivs nicht ad absurdum geführt wird.
Wie lange dauert es noch, bis Versicherer individuelle Tarife anbieten?
ROSEBROCK: Vieles ist schon angeschoben. Insbesondere Überlegungen, wie Daten genutzt und welche Services noch angeboten werden können. Aber es ist noch Luft nach oben. Der Umgang mit Datenanalyse und Künstlicher Intelligenz ist im Versuchsstadium. Aber die Entwicklung wird jetzt schnell gehen.