Eine viel zitierte Börsenweisheit rät Anlegern, im Mai zu verkaufen. Wer dem Rat in diesem Jahr folgte, lag wieder einmal richtig: Kurz darauf verschärfte US-Präsident Donald Trump seinen protektionistischen Kurs und schickte die Aktienkurse auf Talfahrt. Freunde von Börsenweisheiten wissen aber auch, dass nach „Sell in May“ ein Zusatz folgt: „But remember to come back in September“. Der Gedanke dahinter: Im September, wenn der Sommer vorbei ist, sollen Investoren aufs Parkett zurückkehren, um sich für die Jahresendrally zu positionieren. Erfahrungsgemäß ziehen die Kurse in den Herbst-Monaten kräftig an.
Doch gilt auch das in diesem Jahr? Marktbeobachter sind skeptisch. „So unübersichtlich wie in diesen Tagen war die Lage an den Finanzmärkten schon lange nicht mehr“, sagt Eduard Baitinger, Head of Asset Allocation beim Fondsanbieter Feri. Welche Risiken die Kapitalmärkte bedrohen – und worauf sich Investoren fürs Jahresende einstellen sollten:
Handelskrieg: die zerbrechliche Ruhe
Seit zwei Jahren schenken sich China und die USA nichts. Jüngst aber sind die beiden größten Volkswirtschaften der Welt im Handelskonflikt wieder aufeinander zugegangen. Nachdem die USA neue Sonderabgaben auf chinesische Waren verschoben hatten, will die Volksrepublik nun ihrerseits Soja und Schweinefleisch wieder von Strafzöllen ausnehmen. Verhandlungen über ein Ende des Handelsstreits sollen laut US-Präsident Donald Trump „sehr bald“ wieder aufgenommen werden. Erste Kontakte habe es bereits gegeben. Ob ein Handelsfrieden in greifbarer Nähe liegt, bleibt allerdings abzuwarten. Denn die jüngste Vergangenheit lehrt: Die nächste Eskalation ist oft nur einen Tweet entfernt.
Brexit: Land in Sicht
Am 31. Oktober soll Großbritannien aus der Europäischen Union (EU) austreten . Das Datum rückt näher, die Form ist noch immer nicht klar. Wochenlang hielten die Debatten über Deal oder No Deal die Kapitalmärkte in Atem. Nun hat Premierminister Boris Johnson dem Parlament eine Zwangspause verordnet. Bis Mitte Oktober geht nichts mehr. Danach könnte es ungemütlich werden: Bei einem ungeregelten Austritt Großbritanniens aus der EU rechnen Ökonomen mit einer Rezession im Vereinigten Königreich. Abgesehen vom britischen Markt dürfte ein solches Szenario die Kapitalmärkte allerdings weitestgehend kalt lassen: Das Risiko des „No Deal“ ist bereits zum Großteil eingepreist.
Konjunktur: alle Zeichen auf Sturm
Auch Deutschland steht an der Schwelle zur Rezession. Die deutsche Wirtschaft ist im zweiten Quartal 2019 um 0,1 Prozent geschrumpft. Das Münchner Ifo-Institut geht davon aus, dass das Bruttoinlandsprodukt im dritten Quartal erneut um 0,1 Prozent zurückgehen wird – dann befände sich die Wirtschaft offiziell zumindest in einer sogenannten technischen Rezession. Das macht eine Jahresendrally bei deutschen Aktien unwahrscheinlicher. Marktbeobachter warnen aber davor, den Zahlen zu viel Bedeutung zuzusprechen. Die Auswirkungen dieser technischen Rezession seien nicht vergleichbar mit „echten“ Rezessionen, bei denen etwa die Arbeitslosigkeit deutlich ansteigt, sagt Andreas Scheuerle, Konjunkturexperte bei der Deka-Bank: „Das erwarten wir bislang noch nicht.“
Geldpolitik: Inflation um jeden Preis
Kurz vor dem Ende seiner Amtszeit am 31. Oktober hat Mario Draghi noch einmal geliefert: Der Leitzins bleibt auf dem historischen Tief von null Prozent, gab der Chef der Europäischen Zentralbank (EZB) am 12. September bekannt. Das Ziel ist klar: Die schwächelnde Wirtschaft in Europa und die Inflation ankurbeln – koste es, was es wolle. Ob mehr billiges Geld die Probleme der Eurozone lösen wird, halten Experten jedoch für fraglich. Denn mit ihrem beherzten Eingreifen nimmt die Notenbank auch Druck von der Politik, Reformen anzugehen. „Insofern hoffen auch Politiker auf ein ‘weiter so‘ und beschäftigen sich lieber mit sich selbst“, sagt Thomas Böckelmann, Fondsmanager beim Vermögensverwalter Euroswitch. Ohne kluge Investitions- und Konjunkturprogramme durch die Mitgliedstaaten wird sich eine Rezession in der EU kaum verhindern lassen.