Es klingt gerade jetzt zu schön um wahr zu sein, wo doch so viele fürchten, bald knapp bei Kasse zu sein: Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat jüngst entschieden, dass sich Verbraucher nun von älteren, bestehenden Krediten trennen können, die zumeist aus der Zeit von 2010 bis 2016 stammen ( Az: C-66/19 ). Sie können die Verträge nun insgesamt rückabwickeln und quasi so tun, als seien sie nie geschlossen worden. Das dürfte vor allem für jene Kunden interessant sein, die für ihre Darlehen noch sehr hohe Zinsen zahlen. Denn so könnten Hausfinanzierer mit der Rückabwicklung nun auf billigere Kredite umschulden, ohne Vorfälligkeitsentschädigung zahlen zu müssen.
Und Autokäufer könnten über den Widerruf der Verträge ihre ungeliebten Dieselfahrzeuge loswerden oder sie wären zumindest hohe Finanzierungsraten los. Denn die Verträge enthalten Klauseln, die der EuGH so nicht für statthaft hält.
Das Klausel-Problem:
In den älteren deutschen Kreditverträgen waren die Klauseln für den Widerruf so kompliziert formuliert, dass der EuGH befand: Das verstehe kein normaler Verbraucher. Denn die Widerrufsinformationen enthielten regelmäßig einen Verweis auf einen Paragraphen des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB), der wiederum auf verschiedene andere Vorschriften verwies, die sich zudem noch in unterschiedlichen Gesetzen befinden. Juristen nennen so etwas einen „Kaskadenverweis“.
Und die Europarichter stellten in diesem Fall klar: Es sei keinem Verbraucher zuzumuten, sich durch die unterschiedlichen Gesetze zu wälzen, nur um zu verstehen, was die Widerrufsklausel nun letztlich bedeute. Vielmehr müsse eine Widerrufsinformation so formuliert sein, dass sie gut verständlich und vom Kunden nachzuvollziehen sei. Sonst verstehe er nicht, wann die Widerrufsfrist zu laufen beginne – und wie lange er notfalls den Vertrag noch widerrufen könne. Da es in diesem Fall also nicht so sei, könnten die alten Verträge noch bis heute widerrufen werden, obwohl sie bereits jahrelang laufen.
Das Urteil:
Anwälte, die das Urteil für ihre Klienten erwirkt hatten, feierten den Spruch des EuGH als überaus „verbraucherfreundlich“. Vor allem auch deswegen, weil die deutschen Bundesrichter vom Bundesgerichtshof noch bis zuletzt entschieden hatten: Die Klauseln entsprächen dem gängigen Recht und seien in Ordnung. Zuletzt entschied der BGH das noch im Herbst 2019. Der deutsche Gesetzgeber hatte schließlich auch eine Formulierungshilfe für diese Klauseln gegeben, die von vielen Banken so übernommen worden war. Genau deswegen findet Anwalt Alexander Heinrich von der renommierten Kanzlei Tilp die Entscheidung geradezu bahnbrechend, weil es genau diese Mustertexte als falsch verurteilt.
Die betroffenen Verträge:
Der Richterspruch gilt für alle Immobiliendarlehensverträge (aus der Zeit vom 11. Juni 2010 bis 20. März 2016), sowie für Autofinanzierungen und für normale Konsumentenkredite (vom 11. Juni 2010 bis heute). Das gilt übrigens auch für Kredite, die bereits in der Zwischenzeit abgelöst worden sind – wenn die Banken dann eine erhebliche Vorfälligkeitsentschädigung dafür kassiert haben. Besonders Hauskäufer könnten nun durch die Rückabwicklung enorme fünfstellige Summen sparen. Denn die Baufinanzierungszinsen lagen im Jahr 2010 noch bei rund 4,3 Prozent, 2012 und 2013 waren es immerhin noch rund 3 Prozent. In der Zwischenzeit und durch die Niedrigzinsphase jedoch sind sie auf weit unter ein Prozent abgesackt. Aktuell liegen die Bauzinsen bei etwa 0,76 Prozent für eine 15-jährige Zinsbindung. Das bedeutet, dass Kunden rund 3,5 Prozent weniger Zinsen auf einen Durchschnittskredit von 200.000 Euro zahlen müssen, als sie es noch in den alten Verträge steht. Das kann auf 15 Jahre Laufzeit rund 30.000 Euro ausmachen.
Bei Autokrediten sind die Zinsen ebenfalls heftig gesunken, hier dürfte aber vor allem eine Rolle spielen, dass sich viele Kunden vor einigen Jahren teure Dieselfahrzeuge als Neu- oder Gebrauchtwagen zulegten – und sich seit dem Dieselskandal massiv von den Autoherstellern getäuscht sehen. Die Fahrzeuge haben nicht nur andere Schadstoffwerte als angegeben, sondern sind vielerorts auch von Fahrverboten bedroht und sind kaum verkäuflich oder haben zumindest stark an Wert verloren. Für Autofinanzierer wäre der Kreditwiderruf daher eine gute Gelegenheit, sich doch noch von den unliebsamen Autos zu trennen.
Die Gefahr:
Die Frage ist in beiden Fällen nur, wird es Haus- und Autokäufern tatsächlich gelingen, die Verträge auch ohne größere Kosten rückabzuwickeln? Zumindest sollten die betroffenen Kunden sich ihre Kreditverträge genau ansehen und prüfen, ob ein Widerruf für sie sinnvoll wäre, rät David Riechmann von der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen (VZ NRW): „Ob es dann im Einzelfall sinnvoll wäre, dann auch tatsächlich zu widerrufen hängt von vielen Umständen ab, von der bisherigen Laufzeit des Kredits etwa und von ihrer aktuellen Situation.“ Und letztlich auch davon, ob der Kunde eine Rechtsschutzversicherung hat. Denn viele Banken werden den Widerspruch wohl nicht kommentarlos hinnehmen, sondern sich zuerst einmal dagegen wehren, vermuten Verbraucherschützer und Anlegeranwälte. Ein neues Gerichtsverfahren durch mehrere Instanzen dürfte aber für die Kunden teuer werden. Denn der jeweilige Haus- oder Neuwagenwert gilt als Streitwert des Verfahrens. Das dürfte für recht hohe Anwalts- und Gerichtskosten sorgen, für die der Verbraucher selber einstehen muss, falls er den Prozess verliert.
Zudem wird der Kunde zwar bei einer Rückabwicklung so gestellt, als habe es den Kreditvertrag nicht gegeben – aber eben doch nicht ganz. Denn er muss dennoch einen Wertersatz zahlen, also eine Art Nutzungsentschädigung dafür, dass er das Auto immerhin einige Jahre lang gefahren ist oder im Eigenheim gewohnt hat.
In welchen Fällen also lohnt sich ein Widerruf eher – und wann nicht?
Für den Hauskredit gilt:
Generell gilt der Widerruf für Selbstnutzer von bestehenden Immobilien. Für Neubauten und Vermieter dagegen gilt das Urteil nicht, sagen die Anwälte. Sinnvoll sein kann die Rückabwicklung des Vertrages, wenn der Immobilienbesitzer aktuell genügend Geld auf der Seite hat, um den Kredit vorzeitig zu tilgen – wofür er ja sonst eine hohe Vorfälligkeitsentschädigung an de Bank zahlen müsste. Oder falls er das Haus verkaufen will oder muss – und den Kredit somit auf einen Schlag ablösen möchte. Wer in dieser Lage ist, „sollte sich zeitnah Rechtsrat von einem Anwalt einholen, um sich zumindest das Widerrufsrecht offenzuhalten“, rät Verbraucherschützer Riechmann, „damit er es nicht durch die Rückzahlung verwirkt, bevor er Widerruf einlegt.“
Schwieriger dagegen ist es für all jene, die mit der Rückabwicklung vorzeitig umschulden wollen. Angenommen jemand hat 2013 den Kredit über 200.000 Euro abgeschlossen und er zahlt knapp 3 Prozent Sollzins (15 Jahre Zinsbindung, 30 Jahre Laufzeit insgesamt, mit einer Monatsrate von 833 Euro). Er bekäme dann das bisher in den Vertrag gesteckte Geld auf einen Schlag zurück – müsste somit weniger Kredit aufnhemen als damals und würde dann nach der Umschuldung zu den heute marktüblichen 0,76 Prozent Zinsen sehr viel weniger Zinsen an die Bank zahlen. Bei gleicher Monatsrate wäre er bereits nach gut 21 Jahren Laufzeit fertig, also 2034. Das wäre insgesamt neun Jahre früher als ursprünglich geplant. Seine Zinsersparnis im Vergleich zum Altervertrag läge bei rund 28.500 Euro. Das ist eine stolze Differenz.
Dennoch heißt es nicht, dass sich der Deal für ihn in jedem Fall lohnt, denn: Um überhaupt umschulden zu können, braucht er eine definitive Kreditzusage von einer neuen Bank. Die bisherige Bank wird ihm kaum freiwillig ein neues Angebot unterbreiten. Und neue Banken sind zudem recht zurückhaltend, wenn sie hören, dass es sich um eine Umschuldung handelt, die durch einen Kreditwiderruf ermöglicht werden soll. Denn das signalisiert ihnen: Vorsicht, hier kommt ein streitlustiger Problemkunde! Zumindest könnte sie einen Zinsaufschlag erheben, um ihr Risiko abzumindern.
Dazu kommt, dass die derzeitige Corona-Krise es vielen Kunden aktuell schwerer machen wird, überhaupt neue Kredite zu günstigen Konditionen zu bekommen. „Gerade in unsicheren Zeiten, bei drohender Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit kann das ein Problem sein“, sagt David Reichmann. Etliche Banken vergeben derzeit gar nicht gerne neue Baukredite. Kurzum: So einfach ist es dieser Tage nicht, überhaupt eine andere Bank zu finden.
Die braucht man aber unbedingt. Denn wer den Vertrag widerruft, der muss damit rechnen, dass die Bank innerhalb von 30 Tagen den gesamten Darlehensbetrag zurückfordert, den sie ihm einst geliehen hat. Der Beispielkunde müsste also aus Eigenmitteln oder durch einen neuen Kredit die ursprünglichen 200.000 Euro flüssig haben. Kann der Kunden den Betrag nicht aufbringen, dann droht ihm eine Zwangsversteigerung. Erst im zweiten Schritt geht es dann darum, welche bereits geleisteten Zins- und Tilgungszahlungen der Kunde im Gegenzug zurückbekommt (in diesem Fall wären es rund 70.000 Euro). Und welcher Anteil ihm als Nutzungswertersatz von der Bank in Rechnung gestellt wird. „Es ist auch nicht auszuschließen, dass viele Banken und Sparkassen den Widerruf nicht unisono akzeptieren werden, mit der Folge, dass Verbraucher vor Gericht ziehen müssten“, gibt David Riechmann von der Verbraucherzentrale NRW zu bedenken, „das sollte Verbraucher aber nicht abhalten, nach fachkundiger Aufklärung den Widerruf zu erklären.“
Anwälte und Verbraucherschützer raten daher in solchen Fällen:
- Zuerst eine Rechtschutzversicherung abschließen, die spätere Streitigkeiten mit der Bank abdeckt.
- Dann warten, bis die Rechtschutzpolice gültig ist.
- Dann eine neue Bank suchen und eine eindeutige Kreditzusage einholen.
- Dann erst den Widerruf bei der Bank einreichen. ... Und dann abwarten, was sie dazu sagt.
Es sei übrigens eher selten, dass die bisherige Hausbank in solchen Fällen bereitwillig in die Verhandlung einsteigt und ein Kompromissangebot mit dem Kunden aushandelt, ihm also freiwillig eine Umschuldung auf einen niedrig verzinsten Vertrag anbietet. Denn auch Banken brauchen momentan alle Zinserträge, die sie bekommen können.
Eher keine Option ist ein Widerruf für Kunden, deren Verträge noch von 2010 stammen oder von 2011. Denn jeder Verbraucher kann nach Ablauf von zehn Jahren einen Kredit auch ganz regulär kündigen und eine Umschuldung auf einen günstigeren Kredit vornehmen. Unabhängig davon, welche Zinsbindung mit der Bank vereinbart war. In solchen Fällen also lohnt es sich nicht, einen womöglich jahrelangen Rechtsstreit mit der Hausbank zu riskieren, nur weil man sich Zinsrückzahlungen erhofft. Überdies will auch das Finanzamt seinen Anteil von den erstatteten zinsen, die von der Bank zurückfließen. Man sollte sich das zumindest ganz persönlich im Detail durchrechnen lassen.
Für Autokäufer gilt:
Alle Vertrag ab Juni 2010 sind betroffen und können rückabgewickelt werden, wenn der Kauf des Autos mit der Finanzierung verbunden war. Beide Verträge werden dann rückabgewickelt. In diesem Fall wird das Auto zurückgegeben, und die Bank zahlt dann die geleisteten Raten zurück, sowie die Anzahlung, wenn es eine gegeben hat. Aber: Die Bank darf die gezahlten Zinsen vom Kunden dennoch einbehalten, sagt die Verbraucherzentrale. Denn das Institut hat ja eine Leistung erbracht, die der Kunde in Anspruch genommen hat. Zudem hat der Käufer vermutlich einen Wertersatz an den Händler zu zahlen, dafür, dass er das Auto genutzt hat.
Diese Nutzungsabgabe ist zwar umstritten, es gibt auch bereits Gerichte wie das Landgericht Berlin, die geurteilt haben, die Bank dürfe nur die Zinsen einbehalten, den Wagen habe der Käufer dagegen „kostenlos“ gefahren. Doch das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Und es ist davon auszugehen, dass viele Autohändler sich nicht mit der Rückgabe der Fahrzeuge ohne Wertersatz zufrieden geben werden. Zumindest wenn sie freie Händler waren und die Finanzierung nicht direkt über einen Hersteller mit Autobank gelaufen ist.
Die Nutzungsentschädigung kann teuer werden. Sie berechnet sich aus den gefahrenen Kilometern, multipliziert mit dem Listenpreis des Autos geteilt durch die vermutete Restlaufleistung. Angenommen ein Auto kostete neu 30.000 Euro, er ist 50.000 Kilometer gelaufen und die Restleistung beträgt 100.000 Kilometer (also 150.000 Kilometer insgesamt). Dann müsste der Kunde 15.000 Euro an den Händler zahlen. Zuzüglich eines Wertverlusts, der durch Parkdellen, Steinschläge oder durch Abnutzungen im Innenraum entstanden ist. Daher sollten es sich Autokäufer doppelt überlegen, ob sich die Rückgabe des Wagens lohnt. Denn auch für sie käme ja im Streitfall das Anwalts- und Prozesskostenrisiko noch obendrauf. Ob das EuGH-Urteil also wirklich so ein Meilenstein für Verbraucher ist, hängt jetzt von der Gegenseite ab.