Möglicherweise ist die Entscheidung für die zehnte Zinserhöhung der Europäischen Zentralbank (EZB) in Folge bereits vor zwei Wochen gefallen. Genau genommen am 31. August, als die europäische Statistikbehörde Eurostat ihre Schnellschätzung für den Anstieg der Verbraucherpreise im August veröffentlichte. Der Wert lag bei 5,3 Prozent, was zwar eine Halbierung im Vergleich zum Herbst 2022 darstellt, aber trotzdem für die Geldpolitik in der Eurozone eine Enttäuschung war. Denn anders als erhofft, sank die Inflationsrate nicht weiter, sondern stagnierte auf ihrem Juli-Niveau. Damit zeichnete sich ab, dass die Europäische Zentralbank (EZB) nachlegen musste.
Nun liegt der Leitzins in der Eurozone, gemessen am Einlagensatz, ab Donnerstag kommender Woche also bei vier Prozent und damit so hoch wie noch nie zuvor seit Einführung des Euro. Die Gegenwart ist also restriktiver als die vermeintlich gute alte Zeit hoher Zinsen. Der Hauptrefinanzierungssatz, zu dem Banken sich bei der Notenbank Geld gegen Sicherheiten leihen können, beträgt sogar 4,5 Prozent. Wer hätte das vor 14 Monaten gedacht, als der Einlagensatz noch bei minus 0,5 Prozent lag? Zu den rekordhohen Leitzinsen kommt der Abverkauf von Anleihen aus der EZB-Bilanz dazu, was alles in allem die Geldpolitik in der Eurozone sehr restriktiv gestaltet. Ein deutliches Zeichen für die restriktive Haltung der Euro-Notenbank ist das Schrumpfen der Geldmenge M3, die ein breites Bild der Liquiditätsversorgung in der Eurozone abgibt.
„Zu lange zu hoch“
Lagarde verteidigte die für zahlreiche Marktteilnehmer überraschende Zinserhöhung letztlich mit den Prognosen ihrer Volkswirte. Die Inflation sei noch immer „zu lange zu hoch“, betonte sie gleich eingangs ihrer Pressekonferenz.
Die EZB-Volkswirte hatten am Mittwoch und damit zu Beginn der zweitägigen Ratssitzung ihre neuen Vorhersagen vorgestellt. Im Kern hoben die Ökonomen des EZB-Stabes ihre Prognosen an. Sie erwarten für dieses Jahr eine durchschnittliche Inflationsrate in der Eurozone von 5,6 Prozent und von 3,2 Prozent im kommenden Jahr, was den Bedarf zum Nachsteuern offenbar begründete. Erst 2025 wird die Inflationsprognose demnach mit 2,1 Prozent wieder einigermaßen das Ziel der EZB von zwei Prozent erreichen.
„Eine Zinspause wäre das falsche Signal gewesen“, kommentierte Jan Viebig, Chef-Anlagestratege bei Oddo BHF. „Angesichts des Inflationsausblicks, den die EZB gegeben hat, war es angemessen, die Leitzinsen um 25 weitere Basispunkte heraufzusetzen.“
Inflationstreiber Russland
Lagarde zufolge waren es aber nicht nur diese Stab-Prognosen, die den Rat zur Entschlossenheit veranlasste. Zwar lägen die langfristigen Inflationserwartungen noch bei zwei Prozent, doch einige Indikatoren sendeten Warnsignale aus. Zwei Komponenten bereiten der EZB Sorgen: die Energiepreise, die schon im August den Inflationsrückgang beendeten, und die Nahrungsmittelpreise. Lagarde zeigte hier mit dem Finger auf Russland, das den Deal zur Verschiffung von ukrainischem Getreide über das Schwarze Meer habe platzen lassen. Inflationstreiber Russland also. Bei den Nahrungsmittelpreisen kommen Lagarde zufolge noch die Risiken aus der Klimakrise hinzu.
Jedenfalls sei, so die EZB-Präsidentin, nach der morgendlichen Runde mit den hauseigenen Volkswirten einer „soliden Mehrheit“ im Rat klar gewesen, dass man nun doch noch einmal die Zinsen um 25 Basispunkte anheben müsse. Damit ist auch klar, eine Minderheit stimmte im Rat gegen die Zinserhöhung. Im Rat sitzen neben dem sechsköpfigen EZB-Direktorium die Notenbank-Präsidenten der 20 Euro-Staaten, also auch der deutsche Bundesbankpräsident Joachim Nagel.
„In Bundesbank-Tradition“
Lagarde erhielt jedenfalls viel Applaus für die Zinsanhebung von deutschen Bank-Volkswirten, die in der Vergangenheit zu den schärfsten Kritikern ihres Vorgängers Mario Draghi und dessen Niedrigzinspolitik zählten. Von einem „Erfolg des Falken-Lagers“, sprach Michael Holstein, Chef-Volkswirt der DZ Bank. „Für die Glaubwürdigkeit der EZB-Politik in schwierigen Zeiten ist das sicherlich ein gutes Signal.“ Falken sind die Vertreter einer harten geldpolitischen Linie, ihre lauteste Stimme im EZB-Rat ist der Niederländer Klaas Knot.
Den Ritterschlag der deutschen Ökonomen für Lagarde übernahm Ulrich Kater, Chefvolkswirt der Dekabank, er bescheinigte ihr eine Entscheidung „in bester Bundesbank-Tradition“. Das bedeute: „Im Zweifel für die Preisstabilität“. Die Leitzinsen befinden sich„tief im restriktiven Bereich“, befindet Simona Mocuta, Chefvolkswirtin bei State Street.
Möglicherweise erlebt die Eurozone also gerade ein Déjà-vu der 1990er-Jahre in Deutschland, als die Bundesbank mit ultrastraffer Geldpolitik die Inflation des Einheitsbooms niederkämpfte und eine „Mehltau“-Debatte auslöste, die letztlich in die Hartz-Reformen mündete.
Mit Leitzinsen bei 4,0 bzw. 4,5 Prozent dürfte Lagarde nun den Zinsgipfel erreicht haben. Jedenfalls solange nichts passiert. „Ob noch mehr geldpolitische Straffung notwendig ist, richtet sich danach, ob der Inflationsrückgang im kommenden Jahr anhält oder nicht“, sagte Kater. „Zinssenkungen wird es allerdings so schnell nicht geben.“ Das unterstrich auch Lagarde. Auf die Frage eines Journalisten nach möglichen Zinssenkungen sagte sie: „Wir haben das Wort nicht mal buchstabiert.“ Allerdings betonte sie auch, dass mit der Anhebung nicht automatisch der Gipfel erreicht sei. „Wir können nicht sagen, dass wir auf dem Gipfel sind“, betonte sie. Sollte sich die Datenlage verändern – siehe die Hauptrisiken Russland und Klima – könne sich eine neue Lage ergeben.
Die Entscheidung der EZB könnte also Monat für Monat fallen, wenn Eurostat neue Inflationsdaten vorliegt. Der nächste Zinsentscheid ist für den 26. Oktober angesetzt. Im kommenden Jahr wird dann, darin sind sich viele Ökonomen einig, angesichts der schwachen Konjunktur eine Diskussion über Zinssenkungen einsetzen. „Wenn die Auswirkungen der bevorstehenden Rezession auf den Arbeitsmarkt und die Verbraucherpreise sichtbar werden, erwarten wir jedoch Zinssenkungen im Jahr 2024“, sagt etwa Felix Feather, Ökonom bei der Fondsgesellschaft Abrdn. Vor diesem Hintergrund sollte sich die Rendite zehnjähriger Bundesanleihen bei rund 2,5 Prozent stabilisieren, erwartet Anleihen-Experte Patrick Barbe vom Vermögensverwalter Neuberger Berman.