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Zuwanderung Eine kleine Stadt in Hessen zeigt, wie Integration gelingen kann

Mitarbeiter einer Eisengießerei
Sechs Männer, vier Herkunftsländer – in der Eisengießerei Fritz Winter arbeiten Menschen aus 41 Nationen
© Anna Ziegler
Deutschland braucht viel Zuwanderung – und hadert zugleich damit. Wie es funktionieren kann, zeigt seit Jahrzehnten eine Kleinstadt in Hessen: Stadtallendorf mit 22.000 Einwohnern aus 84 Nationen
 

Der Mann, der vor einem halben Jahrhundert all seinen Mut zusammennahm und zu einer 3000 Kilometer langen Reise in ein fremdes Land aufbrach, um dort sein Glück zu suchen, zieht eine vergilbte Postkarte aus der Tasche. 

Alles darauf sieht aus wie in Wirklichkeit: die roten Giebeldächer, die Bahnschienen, die Fabrikgebäude, die Hochhäuser. Doch es ist ein Modell. Akribisch hat er gesägt, gefeilt und gemalt. So lange, bis alles stimmte, jedes Gebäude und jede Straße am richtigen Platz war. Die Postkarte zeigt eine Miniatur der Stadt, in der Güner Özbalkan sein neues Leben begann. Eineinhalb Quadratmeter neue Heimat aus Sperrholz, zwei Jahre lang hat er daran gebastelt. „Stadtallendorf’dan selamlar“ steht in der einen Ecke der Karte, die andere ziert die türkische Flagge. „Ich trage sie fast immer bei mir“, sagt Özbalkan. Es gibt auch eine deutsche Version mit „Grüßen aus Stadtallendorf“ und dem Stadtwappen.

Postkarte des Stadtmodells, das Güner Özbalkan gebaut hat
Postkarte des Stadtmodells, das Güner Özbalkan gebaut hat
© Anna Ziegler

Man könnte meinen, Özbalkan habe Stadtallendorf mit seinem Modell ein Denkmal gesetzt. Tatsächlich ist es wohl eher so, dass er sich damit an der Stadt, vielleicht auch dem ganzen Land, abgearbeitet hat. Eigentlich tut er das bis heute.

Güner Özbalkan ist 78 Jahre alt. Als er 1969 nach drei Tagen Fahrt an einem kleinen Bahnhof aus dem Zug stieg, um in einer Eisengießerei zu arbeiten, war er einer der ersten türkischen Gastarbeiter, die in die Stadt kamen. Es folgten unzählige weitere Menschen, erst aus der Türkei, Italien und Griechenland, später aus vielen anderen Ländern, aus Russland und Polen zum Beispiel, aus Syrien und der Ukraine. Heute leben hier Menschen aus 84 Nationen. Es gibt drei Moscheen, vier Kirchen und ein alevitisches Gemeindezentrum. Stadtallendorf ist Multikulti in Mittelhessen. 

Geschichten, die von Zuwanderung erzählen, spielen meist in Großstädten, an symbolisch aufgeladenen Orten wie Duisburg-Marxloh oder Berlin-Neukölln. Häufig geht es um Clankriminalität, orientierungslose Jugendliche oder Parallelgesellschaften. Die Geschichte aus Stadtallendorf ist eine andere. Sie handelt von Aufstieg durch Bildung, der integrierenden Kraft von Beschäftigung, aber auch von Diskriminierung und enttäuschten Hoffnungen. 

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