Anzeige

Gastkommentar Wirtschaft braucht Gesellschaft

Wirtschaft ohne Gesellschaft geht nicht - auch wenn die Begriffe nicht identisch sind. Leider haben viele Ökonomen den Zusammenhang vergessen und sich auf die reine Lehre beschränkt
Gesine Schwan
Gesine Schwan
© Marco Prosch / Getty Images

Auf Capital.de schreiben ausgewählte Gastautoren zum Capital-Claim "Wirtschaft ist Gesellschaft". Heute: Gesine Schwan, Präsidentin der Humboldt-Viadrina School of Governance in Berlin.

Auf den ersten Blick erscheint der Satz "Wirtschaft ist Gesellschaft" unbedacht oder oberflächlich. Schließlich gibt es nicht von Ungefähr zwei unterschiedliche Begriffe: "Wirtschaft" und "Gesellschaft". Sie einfach als identisch zu betrachten, führt in die Irre. Damit löscht man alle Unterscheidungen aus, die notwendig sind, um sich zu verständigen.

Auf den zweiten Blick entdeckt man in dieser "Oberflächlichkeit" eine kleine, vermutlich bewusste Provokation: dagegen nämlich, die Wirtschaft als etwas von der Gesellschaft - man könnte fortfahren von der Politik oder der Kultur Isoliertes, Unabhängiges zu verstehen. Gerade diese Fehleinschätzung wird von vielen Wirtschaftswissenschaftlern, die sehr in wissenschaftlichen Disziplinen denken und arbeiten, nahegelegt und verbreitet.

In den letzten Jahrzehnten haben sie sich insbesondere in Deutschland angewöhnt, Wirtschaft möglichst "genau", das heißt in theoretischen Modellen zu interpretieren, die um der Genauigkeit willen von vielen Aspekten der Wirklichkeit abstrahierten und häufig in Formeln und Zahlen gefasst wurden. Hinzu kam, dass Interdisziplinarität, die nicht-ökonomische Ausschnitte der Wirklichkeit hätte einbeziehen können, bei vielen Wirtschaftswissenschaftlern verpönt war, als "unprofessionell" galt. Dies zumal ihr persönliches und berufliches Prestige von der Zahl der Veröffentlichungen in sogenannten "refereed journals" abhing, in denen auf Englisch publiziert wurde und die sich folglich wenig mit Themen befassen konnten, die das eigene Land betrafen und als "provinziell" galten. Internationalität implizierte hier Praxisdistanz.

Dem fiel beispielsweise als Fach auch mehr und mehr die nach dem Zweiten Weltkrieg beim Wiederaufbau Westdeutschlands durchaus wichtige und hilfreiche "Wirtschaftspolitik" zum Opfer, weil sie deutsch-provinziell und von "ungenauer" außerdisziplinärer Wirklichkeit durchsetzt war ebenso wie von Unsicherheiten, die jede Politik notwendigerweise einschließt. Je formaler, "überzeitlicher" und mathematischer – desto besser, so ungefähr lautete die (nicht immer ausdrücklich so formulierte) Parole.

Eine der Folgen davon war, dass die Finanzkrise und ihre Konsequenzen die deutsche Wirtschaftswissenschaft (anders als die amerikanische) überraschte und die Politik in ihr wenig praktische Hilfe fand. Eine weitere, dass sich in Deutschland eine besondere Neigung zu dogmatischen Festlegungen entwickelte, die zudem häufig noch von der Prämisse des sogenannten homo oeconomicus ausging. Diese Fiktion unterstellte, dass die Menschen generell mit Blick auf ihren Eigennutz handelten, den sie rational kalkulierten. Gefühle, Gewohnheiten, Unklarheiten der Motivation, Unsicherheiten der Einschätzung (wie sie der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz in seinen Untersuchungen über unvollkommene Marktinformationen unterstreicht) kamen nur langsam ins Blickfeld der auf mathematische Modelle konzentrierten Wirtschaftswissenschaftler.

Die Folgen davon erleben wir immer noch, auch in vielen journalistischen Berichten oder Analysen zur Finanzkrise: Das was früher "Politische Ökonomie" hieß und eben die Interdependenz sozialer, politischer, ja auch philosophischer Aspekte einbezog, ist außer Mode geraten. Infolgedessen machen Ökonomen dann "der Politik" zum Vorwurf, dass sie mit Rücksicht auf die Gesellschaft, auf Wähler oder soziale Krisengefahren opportunistisch handele, anstatt die "reine Lehre" mit dem notwendigen (unendlich) langen Atem konsequent umzusetzen.

Dass es Wirtschaft ohne Menschen und ohne Gesellschaft gar nicht gibt, ging als Grundeinsicht verloren. Aber demokratische Wahlen erinnern immer deutlicher daran, dass sich Wirtschaft und Gesellschaft nicht trennen lassen. Und Politiker oder Politikerinnen, die europäischen Nachbarn insbesondere in Südeuropa in der Krise rigorose "austerity" predigen und bei ihnen nur die Unverantwortlichkeit des "moral hazard" vermuten, überbieten sich dann vor den eigenen Wahlen in opportunistischen Wahlgeschenken. Entstehende Ähnlichkeiten sind nicht zufällig. Wirtschaft ist eben Gesellschaft.

Foto: © Marco Prosch/Getty Images

Mehr zum Thema

Neueste Artikel

VG-Wort Pixel