Christian Schütte schreibt an dieser Stelle über Ökonomie und Politik
Dass die Griechen "über ihre Verhältnisse leben", das weiß in Deutschland heute anscheinend jedes Kind. Dass in Hellas "geprasst" und "auf unsere Kosten" in der Sonne gelegen wird, gilt nicht mehr als Stammtischparole, sondern als solider Teil der politischen Allgemeinbildung.
Die Frage ist nur: Was genau soll damit eigentlich gemeint sein?
Wenn gesagt sein soll, dass Athen seine Schulden bei den anderen Europäern nicht mehr regulär zurückzahlen wird, dann entspricht das plausiblen Finanzberechnungen. Die in der deutschen Politik allerdings gern ignoriert werden.
Wenn gemeint ist, dass diese Griechen es einfach unverändert krachen lassen, dann sind solche Sprüche grober Unfug. Nach der wüsten Schuldenparty in den ersten Euro-Jahren ist der Lebensstandard des Landes nämlich längst gravierend gesenkt worden.
Es geht heute nicht mehr darum, wann "die Griechen endlich mit dem Sparen anfangen". Sondern darum, wie und auf welchem Niveau sie eigentlich eine sich selbst tragende Wirtschaft organisieren können. Muss es noch weiter hinuntergehen, bis auf den Lebensstandard benachbarter Balkanstaaten? Oder schafft es das Land, wenigstens einen hinteren Platz in der Riege der entwickelten Industrienationen zu halten?
Nimmt man den klassischen Indikator, die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts, dann war der griechische Absturz der vergangenen Jahre noch dramatischer als die Einbrüche in Deutschland oder den USA während der Weltwirtschaftskrise 1929ff: Die eigene Wirtschaftsleistung Griechenlands ist seit Krisenbeginn um etwa ein Viertel geschrumpft. Umgerechnet auf die Bundesrepublik entspräche das einem Minus von über 600 Milliarden Euro.
Der Güterverbrauch sank allerdings noch stärker, denn in der Tat hatten die Griechen ja vor der Krise "über ihre Verhältnisse" gelebt – und zwar in groteskem Ausmaß. Die Leistungsbilanz, also der Saldo der Handels- und Dienstleistungsgeschäfte mit dem Ausland, ist in Griechenland traditionell tiefrot. Das Land verzehrte fast immer mehr Güter als es selbst herstellte. Nach dem Euro-Beitritt war das Leistungsbilanzdefizit förmlich explodiert, es erreichte 2008, im letzten Jahr vor der Krise, gut 15 Prozent des BIP.
Diese Zufuhr von außen gibt es heute nicht mehr. Seit 2013 weist die Leistungsbilanz eine schwarze Null aus, Griechenland lebt insofern jetzt sehr wohl "im Rahmen seiner Verhältnisse". Erreicht wurde das leider nicht dadurch, dass die eigene Exportleistung stieg und man im Ausland mehr verdiente. Sondern durch drastischen Verzicht bei den Einfuhren.
Weder fett noch fit
Die Summe aus Privatkonsum, Staatskonsum und Investitionen - die Inlandsnachfrage, die man auch als eine Art "kollektiven Lebensstandard" der Griechen ansehen könnte - ist seit 2008 um rund ein Drittel gefallen. Den extremsten Einbruch gab es - wie kaum anders zu erwarten - bei den Ausgaben für die Zukunft: Die jährlichen Bruttoinvestitionen sind seit 2008 um gut 60 Prozent geschrumpft.
Und das Haushaltsdefizit? Ja, der Staat hat nach wie vor eine Finanzlücke, geschätzt etwa 2,5 Prozent des BIP. Rechnet man allerdings die Zinszahlungen für Schulden heraus, dann lag der Etat zuletzt sogar leicht im Plus. Der sogenannte Primärhaushalt ist ausgeglichen, der laufende Staatsbetrieb kann also aus eigenen Mitteln finanziert werden. Die Streit mit den Gläubigern geht jetzt nur darum, wie hoch die Primärüberschüsse sein sollen, die für Zinsen und Abtragung der alten Schulden reserviert werden.
Griechenland lebt im Moment nicht mehr "über seine Verhältnisse" und es finanziert auch seinen Staatsapparat selbst. Investiert wird dort allerdings nur noch sehr schwach. Dabei fehlt dem Land vor allem eine Wirtschaft, die in der Breite so produktiv und wettbewerbsfähig ist, dass sie auch einmal wieder steigende Einkommen und Exporterlöse generieren kann. Aus denen dann auch Schulden zu bedienen wären.
Skeptische Ökonomen argumentieren, dass Griechenland auch nach seinem großen Absturz noch immer nicht auf solidem Grund angekommen ist. Verglichen mit 1998, dem Jahr vor der Euro-Einführung, sei das Pro-Kopf-Einkommen auch jetzt noch stärker im Plus als das in Zypern, Dänemark, Italien oder Portugal, rechnet etwa der Harvard-Entwicklungsexperte Ricardo Hausmann vor. Dabei habe Griechenland "nie die produktive Struktur gehabt, um so reich zu sein wie es war."
Hausmann verweist besonders auf den desaströsen Zustand des griechischen Exportsektors. Eines Sektors, den es jenseits von ein paar Agrar- und Raffinerieprodukten und dem mit vielen Konkurrenten kämpfenden Tourismusgeschäft im Grunde überhaupt nicht gibt. Griechenland, so der Ökonom, produziere einfach "sehr wenig von dem, was die Welt konsumieren will".
Das wirkliche Problem mit der neuen Syriza-Regierung in Athen ist denn auch nicht, dass sie mit den Europäern um Schuldenerleichterung pokert. Oder dass sie hier und heute schon "prassen" würde. Das Problem ist, dass diese Regierung nicht einmal ansatzweise erkennen lässt, wie sie denn eine leistungs- und exportfähigere Wirtschaft entwickeln will.
Mit einer Rückkehr zu sozialistischen Füllhornmethoden kann der griechische Lebensstandard nur auf Balkanniveau landen.