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Kommentar Wie das Coronavirus die Demokratien wiederbelebt

Seltener Auftritt: Bundeskanzlerin Merkel wandte sich per TV-Ansprache an die Bürgerinnen und Bürger
Seltener Auftritt: Bundeskanzlerin Merkel wandte sich per TV-Ansprache an die Bürgerinnen und Bürger
© dpa
Wer meint, die Krise nutze vor allem Populisten und autoritären Regimen, liegt falsch. Vielmehr stellen viele Demokratien derzeit die Leistungsfähigkeit ihrer Politik unter Beweis

Der Staat ist zurück! Es lebe die Globalisierung. Das Coronavirus belebt die Politik in den Demokratien. Die Krise stellt die liberalen Demokratien vor die Wahl zwischen autoritärem Nationalismus und einer offenen, auf zwischenstaatlicher Zusammenarbeit beruhenden Weltordnung.

Wenn man sich anschaut, wie Nationen derzeit ihre Grenzen dichtmachen und Regierungen drakonische Mittel zur Bekämpfung von Covid-19 übernehmen, ist die Versuchung groß, das Schlimmste zu erwarten. Wenn man die wankelmütigen Auftritte von US-Präsident Donald Trump mit der fundierten Politik des New Yorker Gouverneurs Andrew Cuomo vergleicht, wird man Grund zum Optimismus finden. Kompetenz zeigt sich in Krisenmomenten.

Für die Politiker ist derzeit alles jenseits des Coronavirus trivial. Ob rechts oder links, unabhängig von ihren Wahlprogrammen, Versprechen oder Regierungsprogrammen - die gegenwärtige Politikergeneration wird an ihrem Umgang mit der Pandemie gemessen. Ein paar wenige werden sich vielleicht durchmogeln können, aber Katastrophen dieser Größenordnung lassen jeden Bullshitter oder Schwätzer gnadenlos auffliegen.

Die Rückkehr der Regierung und der Staaten ins Zentrum der Aufmerksamkeit markiert das Ende einer Ära, in der Macht und Verantwortung von den Staaten auf die Märkte übergegangen sind. Die Reaktion auf die Pandemie hat dazu geführt, dass demokratische Politiker Befugnisse übernommen haben, die außerhalb von Kriegszeiten beispiellos sind. Die Pandemie war weder eine Folge der Globalisierung noch des Kapitalismus. Aber sie hat die Grenzen freier Märkte aufgedeckt - man denke nur an den Kampf um knappe Ressourcen im US-Gesundheitssystem.

Die Ära des Fiskalfundamentalismus ist vorbei

Die Krise hat einige Orthodoxien in Luft aufgelöst. Wenn man sieht, wie Regierungen Billionen von Dollar in den Kampf gegen den wirtschaftlichen Zusammenbruch werfen , dann ist das ein Zeichen dafür, wie absurd die Besorgnis der letzten Jahrzehnte über ausgeglichene Haushalte, öffentliche Defizite und die Verschuldung im Verhältnis zum BIP war. Natürlich müssen die Regierungen nachhaltige Grenzen für Ausgaben und Verschuldung setzen, aber die Ära des Fiskalfundamentalismus ist vorbei.

Die finale Rechnung nach einem Sieg über das Coronavirus wird gigantisch sein. Irgendwann werden die Schulden zurückgezahlt werden müssen. Mit etwas Glück wird der Kontext dafür jedoch eine nüchterne Diskussion und eine Neugewichtung der jeweiligen Verantwortlichkeiten von Regierung, Privatwirtschaft und Bürgern sein.

Der Finanzcrash von 2008 erwies sich als eine verpasste Gelegenheit für Veränderungen. Die Folge war eine steigende öffentliche Unzufriedenheit und der Aufstieg wütender Populisten von rechts und links. Das Coronavirus lässt kein zweites Mal Raum für zögerliches Handeln. In den meisten fortgeschrittenen Demokratien zahlen die Wähler einen Preis: Für die ideologische Hingabe an einen schlanken Staat mit niedrigen Steuern bekommen sie schwache Gesundheitssysteme. Liberale Märkte haben langfristig nur dann eine Zukunft, wenn sie auf politischer Zustimmung beruhen.

Autoritäre Regime scheinbar erfolgreich

Die einfache Schlussfolgerung ist, dass sich die Pandemie als ein Geschenk an die Populisten und als Vorspiel für ein Abgleiten in den autoritären Nationalismus erweisen wird. Die Rückkehr des Staates kann als Beweis dafür angeführt werden, dass die Populisten von Anfang an Recht hatten mit ihrer Kritik an den globalen Eliten. Geschlossene Grenzen sind der einzige Schutz gegen die Außenwelt. Die Maßnahmen, die die Staaten nun zur Bekämpfung der Pandemie übernommen haben, entsprechen der öffentlichen Präferenz für Sicherheit gegenüber Freiheit.

Die Desinformationskampagnen des Regimes von Wladimir Putin in Moskau befördern ebendiese Botschaft. Die Pandemie wird als das Werk des dekadenten westlichen Kapitalismus dargestellt - eine Krise, die durch eine ungehemmte Globalisierung und die Schwäche der westlichen Demokratie entstanden ist. Der relative Erfolg der autoritären Regime bei der Bekämpfung der Epidemie spricht für ihre angeborene Überlegenheit gegenüber den liberalen Demokratien des Westens.

Dieses Narrativ hat auf den ersten Blick eine gewisse Anziehungskraft derzeit. Der vom chinesischen Präsidenten Xi Jinping angeordnete drakonische Shutdown hat zweifellos dazu beigetragen, den ersten Ausbruch unter Kontrolle zu bringen. Peking lockert nun die Beschränkungen. Der Haken dabei ist jedoch, dass der gleiche politische Absolutismus chinesischen Beamten einen Anreiz bot, die ersten Corona-Fälle zu vertuschen. Was die Behauptungen Russlands über seinen eigenen Erfolg betrifft, dürfte das letzte Urteil noch nicht gesprochen sein. Und Südkorea hat gezeigt, wie auch eine entschlossene, effiziente Demokratie das Virus erfolgreich eindämmen kann.

Wenn aus einer solchen tödlichen Katastrophe überhaupt etwas Gutes hervorgehen kann, so ist es vielleicht das: Die Pandemie könnte die Kraft haben den Wert von Kompetenz und Ehrlichkeit in Demokatien wieder in den Mittelpunkt zu stellen. Trumps wahnhaftes Getöse darüber, wie er das „chinesische“ Virus besiegt, wird Tag für Tag durch die sprunghafte Ausbreitung der Krankheit infrage gestellt. Die Pandemie verdeutlicht die wachsende Kluft zwischen dem Weißen Haus auf der einen Seite und den Bundesstaaten und den lokalen Behörden auf der anderen Seite – Republikaner und Demokraten gleichermaßen –, die mit der Pandemie konfrontiert sind. Umfragen zeigen, dass die Amerikaner dem Präsidenten derzeit noch gewogen sind. Doch die finale Abrechnung mit seinem Krisenmanagement wird früher oder später kommen.

Vertrauen in Regierungen kehrt zurück

In Europa haben die Regierungschefs die Aufmerksamkeit und – dort wo sie eine klare Reaktion gezeigt haben – auch das Vertrauen der Wähler wiedergewonnen. Der italienische Premierminister Giuseppe Conte, der französische Präsident Emmanuel Macron und die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel haben alle starke öffentliche Zustimmung für harte Maßnahmen zur Unterdrückung der Pandemie erhalten.

Die Rückkehr des Vertrauens in die Regierungen ist keine Selbstverständlichkeit. Das Versäumnis der Europäischen Union zum Beispiel, ein wirkliches Maß an Solidarität bei der Unterstützung des verzweifelten Kampfes Italiens gegen die Pandemie zu zeigen, wiegt schwer.

Doch insgesamt bietet die Corona-Krise die Chance, Regierungsführung und Politik als Ganzes zu rehabilitieren, eine ausgeglichenere Balance zwischen Politik und Ökonomie zu schaffen, den Glauben an die Stärke von Demokratien wiederherzustellen und die globale Zusammenarbeit zu stärken. Die Frage bleibt, ob die Politik tatsächlich in diese Richtung gehen wird.

Copyright The Financial Times Limited 2020

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