Diese Anrufe sind atemlos, gehetzt, da ist jemand rund um die Uhr im Einsatz, wie in der Notaufnahme: Gespräche mit Menschen, die um die Existenz ihres Unternehmens kämpfen. Derzeit führe ich viele solche Gespräche, ein wenig zu viele.
„Wir haben 80 Prozent des Geschäfts verloren“, sagt mir ein Unternehmer, der seit vielen Jahren in Norddeutschland eine erfolgreiche Eventagentur hat. Eine Woche später schreibt er per Whatsapp: „100 % Auftragseinbruch bei uns.“
„Wenn das so weiter geht, sind bei uns Ende März die Lichter aus“, berichtet ein anderer, einer dieser unzähligen Mittelständler, zweistelliger Millionenumsatz, Textilbranche. Die Händler nehmen keine Ware mehr ab, weil die Geschäfte geschlossen sind.
Am Wochenende war er auf der Homepage der KfW, las hektisch über die Hilfsprogramme, wollte anrufen, die Leitungen waren besetzt. So viele Fragen: Hatten die in Berlin auch daran gedacht, die Einfuhrumsatzsteuer zu stunden? Die man beim Import von Waren an der Grenze entrichtet? Der Mann im Zollamt war freundlich, verstand das Problem, hatte aber noch keine neue Anweisung. Also bitte: 300.000 Euro überweisen.
Diese Kämpfe werden derzeit in Deutschland überall gefochten, und sie sind oft noch unsichtbar. Das Allermeiste fühlt sich ja wie immer an. Wie früher, möchte man fast sagen. Zweite Woche Homeoffice, die meisten sitzen zu Hause in der vertrauten Kulisse, oft eine Kulisse des Wohlstands, zwischen Sofalandschaften und Boxspringbetten, die Kaffeevollautomaten surren wie jeden Tag, Netflix läuft, Playstation läuft, die Kinder streiten ums Smartphone. Alles gut, wie ein verlängertes Wochenende. Denn auch wenn wir viel über Ungleichheit und Armut gestritten haben in den vergangenen Jahren, hat sich Wohlstand angesammelt, in Millionen deutschen Haushalten. Jetzt schauen wir uns das erste Mal um und ahnen, wie zerbrechlich er sein kann.
Viel ist nun von einer großen Wirtschaftskrise die Rede, von einem historischen Einbruch. Nach den Schulen, Cafés und Geschäften schließen die ersten Fabriken, Volkswagen macht dicht, auch Audi, BMW, Opel und Peugeot werden ihre Bänder stillstehen lassen. Die Weltwirtschaft in einem künstlichen Koma, wann gab es das? Wie schlimm wird diese Krise? fragen sich viele. Und was macht sie so besonders? Und vor allem: Wie lange wird sie dauern?
#1 Ein Schock von außen, ohne Schuld
Lange habe ich mir nicht mehr die Buchrücken angeschaut, diese Woche stand ich wieder vor dem Regal. Sie stehen oben rechts, die Bücher über Wirtschaftskrisen, einige Dutzend. Meine Frau hat sich immer darüber lustig gemacht, dass es so viele sind. „Was willst Du denn noch darüber lesen?“, fragte sie. Es sind die großen Erzählungen und Erklärungen der Crashs und Krisen. „Das Ende der Weltwirtschaft und ihre Zukunft“ von Nouriel Roubini, der die Finanzkrise voraussagte. „Too Big To Fail“ von Andrew Ross Sorkin über den Fall von Lehman Brothers. „Manien, Paniken, Crashs“ von Charles P. Kindleberger, das Standardwerk.
All diese Bücher handeln auch von Gier und Größenwahn, von Spekulationen und Blasen, von Menschen, die verheerende Fehler machen, von einem Kapitalismus, der heiß läuft und sich selbst verschlingt. Wirtschaftskrisen sind keine Ausnahmen, das lernt man in diesen Büchern, sie gab und gibt es immer wieder. Die letzte große liegt ja erst ein gutes Jahrzehnt zurück. Auch davor gab es Einbrüche und Einschnitte: Der Crash nach der Dotcom-Blase, die Russland-Krise 1998, die Asienkrise 1997, der Zusammenbruch des Weltwährungssystems 1971. Und immer gab es jemanden, der eingeschritten ist, Könige, Bankiers, Staaten, Notenbanken. Denn Ansteckung und den Verlust von Vertrauen ist eine Gefahr, die das Finanzsystem zu gut kennt.
Nach diesen Krisen wurde viel gestritten, über den Kapitalismus, über die Schuldfrage, über Spekulanten und Zocker, den blinden Glauben an den Markt, weil irgendwo in dem System etwas faul gewesen sein muss: Es gab zu viele Kredite, zu viele Schulden oder „toxische Papiere“. Diesmal gibt es diesen Streit nicht. Dieses Virus, das Toxische, kommt von außen. Es trifft die USA und Kuba, Tom Hanks und Friedrich Merz, Sportler und Manager, Reiche und Arme.
Ökonomen sprechen von einem „exogenen Schock“, der die Wirtschaft direkt trifft. Und von einem „Angebots- und Nachfrageschock“. Angebot heißt: Es fehlen Menschen in den Fabriken, Ersatzteile, die nicht auf Schiffe verladen wurden, Ware, die nicht in Häfen ankommt. Und weil viele Leute Angst haben, bricht auch die Nachfrage ein: Sie kaufen weniger Autos, weniger Fernseher, weniger Turnschuhe und Handtaschen. Und wenn jetzt noch alle Geschäfte und Cafés schließen, konsumieren sie noch weniger. Eine Abwärtsspirale. Die wir erst mal nicht stoppen, im Gegenteil: Mit jeder Schließung eines Geschäfts müssen wir sie weiter beschleunigen.
#2 Urgewalt trifft Überfluss
Wir kennen das nur aus Geschichtsbüchern, von Zeichnungen und Stichen, über abgeriegelte Städte, die Pest und Cholera. Ein Virus ist archaisch, eine Urgewalt. Sie passt nicht in eine Zeit wie unsere, in der die tägliche Wahl zwischen Croissant und Weltmeisterbrötchen, zwischen „Flat White“ und Cappuccino verläuft.
Da draußen ist das Virus, und drinnen steht das Himalaja-Salz auf den Tischen, der Veggie-Burger liegt im Kühlschrank. Viele fragten sich morgens: Mandelmilch oder Hafermilch? Nun fragen sie sich: H-Milch oder überhaupt noch Milch? Dieses Corona-Virus bedeutet einen Zusammenprall der Extreme. Nun gut, könnte man sagen: Dann bestellen wir halt mal ein Paar Sneaker weniger, fliegen nicht nach Mallorca und müllen die Landschaft nicht mit To-Go-Bechern zu. War das nicht eh ein Problem? Doch es geht ja nicht um Verzicht, wir bauen gerade eine Frankenstein-Version einer Verzichtsgesellschaft, weil wir uns einsperren und Angst haben.
In früheren Wirtschaftskrisen haben Menschen auch ihren Job oder ihr Haus verloren, Restaurants verloren Gäste und Umsätze. Aber noch nie mussten sie dicht machen. Lockdown statt Bankrun , wir schließen alles und stürmen (noch) nicht die Banken, weil man sich da ja anstecken könnte.
#3 Die Pause-Taste, Ende ungewiss
In jeder Wirtschaftskrise tut eine Regierung alles, um den Laden am Laufen zu halten. Sie senkt Steuern, hilft Unternehmen und stellt Milliarden für Straßen, Brücken und Schulen bereit. Nun müssen Regierungen weltweit die Wirtschaft und ihre Gesellschaft stilllegen, das gab es noch nie. Es ist, sagt der Harvard-Ökonom Kenneth Rogoff, als würde man eine „Pause-Taste“ drücken .
Und weil es das in der Dimension und Fläche, in so vielen Ländern weltweit noch nicht gab, weiß keiner, wie groß der Schaden sein wird. Wir sehen noch nicht den Restaurantbesitzer, der nun um seine Existenz kämpft, den Schuhhändler, der seinen Kredit nicht mehr bezahlen kann, den Möbelhersteller, der eh schon kämpfte. Wir hören die Klagen der Großen: Lufthansa, Daimler, Sixt, und diesmal sind all diese Klagen berechtigt. Wir hören aber nicht die Schreie der Kleinen. Es gibt nur wenige Daten. Ein Beispiel: der Dienst „Open Table“, über den man Tische reservieren kann. Die Einbrüche betragen bis zu 100 Prozent.
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Keiner kann die Folgen dieses einmaligen Experiments abschätzen, wir betreten Neuland. Deshalb überbieten sich alle mit Hilfsforderungen, fordern gleich Billionen statt Milliarden, deshalb reden so viele martialisch, von „Krieg“, „Waffen auf dem Tisch“, „Bazooka“. Die Ungewissheit sehen wir auch an den Börsen, wo innerhalb weniger Wochen die Gewinne von Jahren aufgefressen wurden: Die Märkte kapitulieren. Sie können das Risiko nicht einschätzen, keiner wettet gegen ein Virus.
Man sieht die Ungewissheit auch in der Ohnmacht der Notenbanken, die Zinsen senken und Billionen versprechen. Ohne wirklich zu beruhigen. Billiges Geld hilft nicht bei Ausgangssperren. Die Szenarien, was nun passiert, sind extrem: Im besten Fall erleben wir einen Einbruch, eine weltweite Rezession, mit einem steilen Aufschwung danach. Ökonomen sprechen von einem „V“, weil die Kurve steil runter und wieder rauf läuft. Viele befürchten aber ein „U“ – also eine längere Phase der Stagnation. Oder gar ein „L“. Runter ohne rauf.
#4 Keine Blaupause, aber neue Werkzeuge
Nach jeder Krise war die Welt nicht nur etwas ärmer, sondern auch ein wenig klüger. Wir hatten gelernt (was uns nicht daran hinderte, uns in neue Dummheiten zu stürzen). Im 19. Jahrhundert etwa entstand in Großbritannien die Idee, dass es irgendjemanden geben müsse, der über der Panik steht, eine Art Schiedsrichter. Die Idee der Notenbank wurde geboren, ein „Kreditgeber der letzten Instanz“, der einschreitet und Geld bereitstellt, wenn keiner mehr Geld geben will.
In der Krise von 1907, ein Jahr nach dem Erdbeben von San Francisco, formte sich auch in den USA die Idee der Zentralbank – nachdem ein einziger Mann die Panik eingedämmt hatte: J.P. Morgan, nach dem heute noch eine der größten Banken der Welt benannt ist. Er hatte damals andere Mittel: Er sperre einfach eine Runde Bankiers so lange in eine Bibliothek ein, bis sie sich auf eine Rettungsaktion geeinigt hatten.
Die Werkzeuge, die wir heute kennen, stammen vor allem aus der letzten großen Krise von 2008 und der europäischen Schuldenkrise, die 2011 ausbrach. Niedrige und negative Zinsen, gewaltige Kredite, Liquiditätsspritzen für Unternehmen. Wir kleiden dieser Tage unsere Versprechen in die Formeln von damals: „Wir werden alles tun, was notwendig ist“, „unbegrenzte Hilfen“. Dies Pakete sind richtig, aber die Botschaft kommt noch nicht an. Offenbar ist diese Krise anders, wir müssen über neue Instrumente und Waffen nachdenken.
Es gibt keine Blaupause, im Grunde imitieren wir das, was China in Wuhan vorgemacht hat. Brachiale und brutale Abrieglung, für Wochen oder gar Monate. Ob das richtig ist? Kaum ein Land geht einen anderen Weg. Und es gibt nur wenige Stimmen, die eine andere Strategie vorschlagen – etwa nur die Alten und Kranken zu schützen, und den Rest der Bevölkerung einmal durch diesen Erreger durchzuschleusen. Die Folgen solcher Vorschläge sind natürlich unkalkulierbar.
Es gibt aber auch etwas Positives: Wir schaffen gerade einen neuen Instrumentenkasten für künftige Krisen. Das macht das nächste Virus nicht weniger schlimm, genauso wie die nächste Finanzkrise nicht weniger schlimm ist – aber wir haben eine Blaupause, was zu tun ist. Wir wissen nun, dass man schnell und radikal sein muss, und dass die ersten Wochen entscheiden.
#5 Was wir tun, was nun wichtig ist
Wir treten in eine neue Phase der Ungewissheit. Diese Krise kann einige Wochen, Monate oder Jahre dauern. Wir müssen jetzt schnell, groß und großzügig denken. Die Bundesregierung schlägt eine richtige Richtung ein, hat innerhalb weniger Tage Hilfen und Garantien im dreistelligen Milliardenbereich organisiert. Es ist auch keine Zeit für Prinzipien, Schuldenregeln oder lange Diskussion. Wir müssen im Kopf einen großen Schalter umlegen. Die vergangenen Jahre ist es oft darum gegangen, den Wohlstand, zu verteilen und zu verwalten. Das ist Deutschland einigermaßen gelungen, auch wenn es Diskussionen um Ungleichheit, Reichensteuer und Grundrente gab.
Nun geht es darum zu retten, damit nicht zu viel kaputt geht. Viele gesunde Unternehmen, ganze Länder, könnten auf Dauer Schaden nehmen. Und dieser mögliche Schaden entsteht nicht nur in entfernten Bürotürmen in London oder New York, sondern in unserem Café um die Ecke, bei unserem Stammitaliener, beim Schuhhändler, der immer noch eine tolle Auswahl an Kinderschuhen hat. Er entsteht bei Tausenden Unternehmen, von denen wir noch nie gehört haben.
Es geht um den Erhalt unseres Wohlstandes, um den Zusammenhalt, den wir in so vielen Reden beschworen haben, der aber oft in unseren Ohren verhallte, weil die neuste Staffel „Games of Thrones“ doch spannender war. Viel haben wir auch über die schwarze Null gestritten und über Schulden. Nun können wir froh sein, dass zumindest unser Land große Ressourcen hat, diese epochale Krise zu meistern.
Ich habe aus meinem Regal ein Buch gegriffen, darin war eine lange Liste mit Wirtschaftskrisen. Ich las die Jahreszahlen, wie ein Stakkato der Sorgen: 1857, 1873, 1907, 1929, 1971, 1987, 1997, 2001, 2008, 2011. Und nun 2020. Ich hoffe, wir müssen keinen Bindestrich dahinter machen.
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