Mit friedlichen Übernahmen hat Lawrence Leuschner inzwischen Übung. In weniger als drei Jahren hat seine Firma Tier Mobility mehr als 160 Städte weltweit erobert. Wie kaum ein anderer Verleiher prägt das Unternehmen mit seinen türkisfarbenen E-Scootern das Erscheinungsbild der Städte. Mit dem neuesten Coup soll die Verbreitung von Tier im Straßenverkehr nun noch weiter steigen: Das Berliner Start-up hat sich den Bike-Sharing-Dienst Nextbike einverleibt, wie es am Montag mitteilte. Über den Kaufpreis haben die Beteiligten Stillschweigen vereinbart.
„Die Auswirkungen sind enorm. Wir werden von 160 auf 400 Städte und von 135.000 Fahrzeuge auf 250.000 Fahrzeuge wachsen“, kommentierte Tier-Gründer und CEO Leuschner bei Linkedin die Akquisition. Das Ziel ist klar: Tier will der größte Anbieter von Mikromobilität weltweit werden – und so dem Auto ernsthafte Konkurrenz machen.
Ein Imperium rund um emissionsfreie Mobilität
Leuschners Start-up ist schon länger nicht mehr nur ein E-Scooter-Verleiher. In den vergangenen zwei Jahren hat das Unternehmen ein regelrechtes Imperium rund um emissionsfreie Mobilität aufgebaut. Im Februar 2020 übernahm Tier zunächst 5.000 E-Mopeds und die Ladeinfrastruktur des gescheiterten Sharing-Anbieters Coup. Etwa zum gleichen Zeitpunkt kaufte es das britische Batterie-Unternehmen Push me Bikes. Seit September 2021 experimentiert Tier zudem mit E-Bikes im ländlichen Raum. Mit Nextbike fügt es nun ein Fahrrad-Angebot zu seiner stetig wachsenden Flotte hinzu.
Die Mittel für die Zukäufe kommen von Investoren: Erst Mitte Oktober hatte Tier eine neue Finanzierungsrunde in Höhe von 200 Mio. Dollar verkündet. Bei einer Bewertung von 2 Mrd. Dollar hat die Firma bisher insgesamt 660 Mio. US-Dollar an Eigen- und Fremdkapital eingesammelt.
Nextbike war zuletzt defizitär
Jetzt also Nextbike. Das Unternehmen wurde 2004 von Markus Denk und Ralf Kalupner in Leipzig gegründet und gehört damit zu den Pionieren von Sharing-Konzepten. Nextbike ist im Wesentlichen ein Verleiher von Fahrrädern. Kunden können die Räder gegen eine Gebühr von per App ausleihen und an einem beliebigen Ort im Geschäftsgebiet abstellen. Zudem betreibt Nextbike feste Abstellstationen. Seit dem Start in Leipzig ist die Firma in 300 Städte expandiert. Das Geschäftsmodell ist vor allem auf Partnerschaften mit kommunalen Verkehrsbetrieben ausgerichtet: Zu den Geschäftskunden zählen etwa die Kölner Verkehrs-Betriebe AG oder die Freiburger Verkehrs AG, die ihren Monatskarteninhabern einen rabattierten Ausleih-Tarif anbieten.
Profitabel war das Geschäft zuletzt allerdings nicht. Laut dem aktuellen Jahresabschluss von 2019 verzeichnete Nextbike einen Verlust von rund 1,5 Mio. Euro bei einem Umsatz von 29 Mio. Euro. Der letzte verbliebene Mitgründer Ralf Kalupner zog sich vor eineinhalb Jahren aus dem Geschäft zurück. Laut Handelsregister hielt er zuletzt noch 7,6 Prozent der Anteile. Der Hauptanteilseigner Co-Investor Partners, der mit dem Tier-Deal nun das meiste Geld kassiert, hielt zuletzt 64,5 Prozent an Nextbike.
Tier verfolgt multimodale Strategie
Die Übernahme zahlt auf die multimodale Strategie von Tier ein. Multimodalität bedeutet die Nutzung verschiedener Verkehrsmittel für unterschiedliche Wege und Zwecke. E-Scooter werden beispielsweise meistens nur für Kurzstrecken gewählt, während man mit E-Mopeds auch längere Strecken absolvieren kann.
Multimodalität ist ein Trend, der sich in der Branche schon länger zeigt. Auch der amerikanische Konkurrent Lime und der französisch-niederländische Anbieter Dott haben ihre Flotten in den vergangenen Monaten um Fahrräder erweitert. Tier ist mit der Strategie jedoch mit Abstand am weitesten. Ziel des Berliner Start-ups ist es offenbar, alle möglichen Nutzungsszenarien im innerstädtischen Verkehr mit seiner Flotte abzudecken. Das Unternehmen will den Städten damit „durchgängige Mobilitätskonzepte aus einer Hand“ bieten. Die Wachstumsstory ist klar: Mit der Diversifizierung der Flotte will Tier neue Nutzergruppen erschließen – und damit der größte, emissionsfreie Konkurrent zum Auto werden.
Die Strategie birgt jedoch auch Risiken: Der Platz auf Radwegen und Bürgersteigen ist begrenzt. Schon heute läuft der Verteilungskampf um jeden Meter Straße, wie etwa die Wut auf falschgeparkte E-Scooter zeigt. Mit den wachsenden Flotten stellt sich die Frage, wie Unternehmen und Verkehrsplaner dafür Akzeptanz schaffen wollen.
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