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Gastbeitrag Was der Staat aus der Corona-Krise lernen muss

Krisenmanagement: Der Präsident des Robert Koch Instituts Wieler (l.), Bundesgesundheitsminister Spahn und Kanzlerin Merkel in der Bundespressekonferenz
Krisenmanagement: Der Präsident des Robert Koch Instituts Wieler (l.), Bundesgesundheitsminister Spahn und Kanzlerin Merkel in der Bundespressekonferenz
© IMAGO
Deutschland hat die Pandemie besser im Griff als andere Länder. Doch die Krise hat auch Probleme in der Verwaltung und im Zusammenspiel von Bund und Ländern offen gelegt. Um für künftige Notfälle gerüstet zu sein, benötigt der Staat ein Update

Deutschland ist gut durch die Corona-Krise gekommen. Bislang. Das Gesundheitssystem hat sich als belastungsfähig erwiesen, die Infiziertenzahlen gehören weltweit zu den niedrigsten, ebenso die Zahl der an Corona Verstorbenen. Deutschland gehört zudem zu den Ländern, die bei der Erforschung eines Impfstoffes führend sind. Deshalb hat der Londoner Think Tank Deep Knowledge Group Deutschland als das sicherste und stabilste Land in Europa eingestuft. Weltweit hat nur Israel noch besser abgeschnitten. Das Krisenmanagement der Bundesregierung hat also gegriffen.

Laut einer Untersuchung der Uni Göttingen und des Max-Planck-Institutes waren es vor allem drei Maßnahmen, denen Deutschland die Eindämmung der Krise verdankt: die Absage von Großveranstaltungen, die Geschäfts- und Schulschließungen sowie die Kontaktbeschränkungen. Welchen Einfluss das Maskentragen hat, wird derzeit noch erforscht. Eigentlich ist ja dann alles in Ordnung? Nein, keineswegs.

Die Krise hat nämlich auch klar gezeigt: Das Krisenmanagement in Deutschland, die Prozesse und Abstimmungen zwischen Bund und Ländern und einzelnen Behörden sind keineswegs krisentauglich. Und vor allem: Deutschland ist ein digitales Entwicklungsland – ausgerechnet, was behördliche Verwaltungsvorgänge und Abstimmungsprozesse betrifft.

Statt auf Echtzeitzahlen von Infizierten musste das Robert Koch Institut auf 14 Tage alte Fallzahlen zurückgreifen, die zum Teil noch telefonisch durchgegeben werden mussten. Elektronisches Meldewesen? Fehlanzeige. Eine automatische digitale Erfassung der freien Intensivmedizin-Betten? Testergebnisse aus dem Labor digital übermitteln? Videosprechstunden für Patienten und digitale Rezepte? Eine Pandemie-App von Anfang an? Fehlanzeige.

Meldewesen über Fax

Bereits seit 2013 wird das elektronische Meldesystem für Epidemien (DEMIS) geplant: Seit Juni 2020, also ganze sieben Jahre später, nimmt es so langsam Gestalt an. Schrittweise sollen bis 2022 die rund 170 Labore und 400 Gesundheitsämter in Deutschland an DEMIS angeschlossen sein. Schnelligkeit aber rettet im Notfall Leben. Deutschland meinte, bislang darauf verzichten zu können. Das könnte bei einer möglichen zweiten Corona-Welle aber (lebens-) gefährlich werden. Deshalb haben die Akkreditierten Labore in der Medizin (ALM) jetzt im Juni gefordert, endlich ihre Labortests für COVID-19 digital an das RKI übermitteln zu können. Bislang lief das Meldewesen nur über Fax.

Gesundheitsminister Jens Spahn sagte im April, dass wir uns alle am Ende der Krise werden viel verzeihen müssen. Das mag zutreffen – kann aber kein Krisenmanagement-Konzept für die Zukunft sein. Deutschland hat in der Krise eben auch viel Glück gehabt. Genau jetzt ist die Zeit, die vergangenen vier Monaten kritisch zu analysieren und daraus Lehren für die Zukunft zu ziehen, damit das Land krisensicherer und resilienter wird. Denn eine zweite Welle kann nicht ausgeschlossen werden, eine weitere Pandemie auch nicht.

Was muss jetzt getan werden? In Deutschland liegt die Zuständigkeit für Krisen bei den Ländern und Kommunen. Feste Regeln und Abläufe für eine Zusammenarbeit gibt es allerdings bislang nicht. Der Krisenstab der Bundesregierung, der am 27. Februar 2020 einberufen wurde, kann den Ländern nur Empfehlungen aussprechen. Er kann nichts anordnen und hat keine eigene Zuständigkeit. Das muss sich ändern. Es muss ein klares System mit klaren Prozessen geben, wie Entscheidungen herbeigeführt werden. Am besten mithilfe einer Behörde, die Bund- und Länderkompetenzen bündelt.

Ein Maßnahmenplan für die Neuordnung der Zuständigkeiten und Zusammenarbeit in Krisenzeiten liegt bereits seit Jahren auf dem Tisch. Jetzt ist Zeit zu handeln. Die Bundesregierung muss deshalb eine überparteiliche Expertengruppe einsetzen, die die Bruchstellen der Zusammenarbeit analysiert und Vorschläge für eine umfassende Digitalisierung von Verwaltung und Staat macht. Außerdem müssen ein nachhaltiges Konzept für ein nationales Risikomanagement sowie ein nationaler Krisenplan erarbeitet werden. Beides sollte dann in einen dringend notwendigen Staatsvertrag zwischen Bund und Ländern einfließen, der Folgendes umfasst:

  • Schaffung eines ständigen nationalen Krisenrates, der für die Koordination der Bundesländer zuständig ist und der durch die Bundesbehörden (zum Beispiel RKI, Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe) und einen institutionalisierten, breit aufgestellten wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Beirat unterstützt wird
  • Benennung eines nationalen Krisenbeauftragten, der dem ständigen nationalen Krisenrat vorsteht
  • Digitalisierung aller wesentlichen Prozesse, beispielsweise der Meldewege von Pandemie-Zahlen, der Studienergebnisse und der Testergebnisse, damit die erfolgreichen Maßnahmen der Kommunen und Länder vorangetrieben und punktgenaue, relevante Vor-Ort-Maßnahmen durchgeführt werden können (eAkte, Info-RKI, Kommunikation Gesundheitsämter-Land-Bund, Infokanäle zu wesentlichen Verbündeten)
  • Einrichtung eines KI-gestützten Frühwarnsystems, bei dem alle relevanten Informationen zusammengeführt werden (Umwelt-Klima-Daten, Geodaten, anonymisierte und pseudonymisierte Reisebewegungen, WHO-Daten, Daten von Klinik- und Forschungsverbünden, Daten der Nachrichtendienste, Auswertungen von öffentlichen Daten zu Erkrankungen)
  • Einheitliche Standards der Länder im Bevölkerungsschutz müssen geschaffen werden
  • Einheitliche Beschaffung von notwendigen Schutzmaßnahmen und Medikamente

Pandemien machen nicht an Ländergrenzen halt, Zuständigkeiten aber schon. So konnte in der Krise kaum ein Land von den Erfahrungen oder auch Hilfen anderer Länder profitieren. Deshalb ist es notwendig, dass sich die Bundesregierung dafür einsetzt, auch auf europäischer Ebene ein Melde-, Steuerungs- und Beschaffungswesen zur gemeinsamen Abwehr von Pandemien und Naturkatastrophen einzurichten, sodass kein europäisches Land in der nächsten Krise alleine bleibt.

Hartfrid Wolff, ehemaliges Mitglied des Bundestags, ist Gründer des Zukunftsforums Öffentliche Sicherheit und des Forschungsforums Öffentliche Sicherheit sowie Leiter „Sicherheit“ bei KPMG im Bereich Öffentlicher Sektor in Stuttgart.

Isabella Pfaff lehrt an der HAW Hamburg Krisenkommunikation und ist Inhaberin der Agentur mfm-future at work in Berlin, München, Brüssel.

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