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Arbeitsmarkt Warum sich der Arbeitsmarkt der Krise nicht länger entziehen kann

Vor der Einfahrt auf das Werksgelände von Thyssenkrupp Steel in Duisburg Plakate und Fahnen der IG Metall
Bei Thyssenkrupp und anderswo in der Industrie werden massiv Stellen abgebaut
© Christoph Reichwein/dpa / Picture Alliance
Bislang hat sich der Arbeitsmarkt als robust erwiesen – trotz der Wirtschaftsflaute. Doch das bleibt nicht so. Arbeitsmarktexperte Holger Schäfer beobachtet seit dem Sommer eine Trendwende – nicht nur in der Industrie

ThyssenKrupp ist das jüngste Beispiel: Der Konzern hat bekannt gegeben, Tausende Arbeitsplätze abbauen zu wollen. In den vergangenen Monaten gab es mehrere ähnliche Nachrichten aus der Industrie. Sind das noch Einzelfälle oder haben wir nach Jahren des Beschäftigungswachstums nun eine Trendwende auf dem Arbeitsmarkt?
HOLGER SCHÄFER: Nein, das sind keine Einzelfälle, wir sehen insgesamt deutlich einen Arbeitsplatzabbau. Zwar haben wir es bislang nicht mit einer Entlassungswelle zu tun, also in der Regel nicht mit betriebsbedingten Kündigungen. Indikatoren, die auf Entlassungen hindeuten, zeigen nichts Auffälliges an. Was aber sinkt, ist die Einstellungsbereitschaft der Unternehmen. Firmen setzen vor allem auf Fluktuation, um Arbeitsplätze abzubauen. Sie stellen nicht mehr oder nur noch sehr wenig ein. Auf diese Weise baut sich Beschäftigung ab und leider auch Arbeitslosigkeit auf. Lange Zeit hatten wir das Glück, dass Beschäftigungsgewinne in staatsnahen Sektoren, wie öffentliche Verwaltung, Erziehungs- und Gesundheitswesen die Verluste der Industrie kompensierten. Das ist jetzt aber nicht mehr der Fall. Seit Sommer dieses Jahres haben wir gesamtwirtschaftlich einen Beschäftigungsverlust.

Holger Schäfer ist Senior Economist für Beschäftigung und Arbeitslosigkeit beim Institut der Deutschen Wirtschaft.
Holger Schäfer ist Senior Economist für Beschäftigung und Arbeitslosigkeit beim Institut der Deutschen Wirtschaft.
© Institut der deutschen Wirtschaft

Die Arbeitslosigkeit war in den vergangenen Jahren schon leicht gestiegen. Aber nicht, weil die Beschäftigung abnahm – die stieg sogar auf Rekordniveau –, sondern weil mehr Menschen in den Arbeitsmarkt kamen, unter anderem Geflüchtete aus der Ukraine. Treten weiter mehr Menschen in den Arbeitsmarkt ein? Und was bedeutet das für den Arbeitsmarkt?
Die Erwerbspersonenanzahl nimmt weiter zu. Wir hatten in den Jahren 2022/2023 eine Nettozuwanderung von zwei Millionen Menschen nach Deutschland. Sukzessive kommen diese Menschen auch weiterhin auf dem Arbeitsmarkt an. Gleichzeitig haben wir es mit einer Schwächephase der Wirtschaft zu tun. Wir werden 2025 wahrscheinlich das dritte Jahr haben, in dem das Bruttoinlandsprodukt kaum wächst. Das ist für den Arbeitsmarkt schlimmer als eine kurze Rezession. Die kann der Arbeitsmarkt verkraften, selbst wenn sie heftig ist. Das lange Siechtum dagegen, das wir dann im dritten Jahr haben, überfordert Unternehmen, die ihre Beschäftigten halten wollen, so wie sie das in den vergangenen zwei Jahren auch geschafft hatten. Seit Mitte des Jahres beobachten wir entsprechend Beschäftigungsverluste, nicht nur in der Industrie, sondern gesamtwirtschaftlich. Das spricht dafür, dass diese bisherige Entkopplung des Wirtschaftswachstums von Beschäftigung endet. Die Schwäche der deutschen Wirtschaft wird auch auf dem Arbeitsmarkt zunehmend sichtbar.

Wagen Sie eine Prognose, wie sich die Arbeitslosigkeit dann im nächsten Jahr entwickeln wird?
Die Zahl der Arbeitslosen wird schon in diesem Jahr kräftig ansteigen – um ungefähr 180.000. Wir rechnen damit, dass sie auch im nächsten Jahr steigt, aber nicht noch einmal ganz so stark. Etwa 2,9 Millionen Arbeitslose dürften wir dann haben, in einzelnen Monaten möglicherweise auch über 3 Millionen.

Wird die Situation dann vergleichbar sein mit der Massenarbeitslosigkeit in den 1990er Jahren und Anfang der 2000er?
Nein, damals war die Lage völlig anders, wir hatten in der Spitze fast fünf Millionen Arbeitslose im Jahresdurchschnitt. Ich rechne nicht damit, dass wir da wieder hinkommen. Anfang der 2000er-Jahre standen die geburtenstarken Jahrgänge voll im Arbeitsmarkt. Nun beginnt diese geburtenstarke Generation aus dem Arbeitsmarkt auszuscheiden. Das spricht stark dagegen, dass wir noch einmal eine Massenarbeitslosigkeit erleben werden wie damals. Andersherum allerdings ist die demografische Schrumpfung, die uns jetzt bevorsteht, keineswegs eine Garantie, dass die Arbeitslosigkeit verschwindet. Es kann durchaus sein, dass wir gleichzeitig Arbeitslosigkeit und Fachkräftemangel haben.

Schon jetzt steigt die Arbeitslosigkeit, während einige Branchen immer noch über Fachkräftemangel klagen. Woran liegt das? Und ist das ein dauerhafter Zustand?
Das kann durchaus dauerhaft so sein. Im Wesentlichen ist es ein Mismatch: Die Arbeitslosen passen – vereinfacht gesagt – nicht zu den offenen Stellen. Viele Arbeitslose suchen eine einfache Arbeit, für die sie keine abgeschlossene Berufsausbildung brauchen. Dafür gibt es aber wenig Stellenangebote. Den Fachkräftemangel haben wir aber – das sagt der Name schon – dort, wo ein gewisses Qualifikationsniveau verlangt wird. Leider ist es nicht so ganz einfach, den Arbeitslosen diese benötigten Qualifikationen einfach mittels Weiterbildung zu vermitteln. Das ist ein langwieriger und auch teurer Prozess.

Sie haben den demografischen Wandel angesprochen. Pro Jahr werden netto Hunderttausende Menschen in den kommenden Jahrzehnten auf dem Arbeitsmarkt ausscheiden – jedes Jahr. Gleichzeitig versuchen derzeit viele Unternehmen, ihre älteren Mitarbeiter mithilfe von Frühverrentungsprogrammen loszuwerden. Das lässt ja nicht gerade darauf schließen, dass Unternehmen Angst vor dem demografischen Wandel haben.
Die betreffenden Unternehmen nicht. Das ist eine problematische Entwicklung: Denn wir haben gleichzeitig auch expandierende Unternehmen, die gerne auch mehr Beschäftigte einstellen würden. Sie finden die aber nicht auf dem Arbeitsmarkt, unter anderem, weil solche Beschäftigte, die sie brauchen könnten, in den Vorruhestand gehen. Die Politik sollte diese Entwicklung nicht hinnehmen, sondern die Attraktivität der Frühverrentung einschränken. Das würde mehr Anreiz bieten, auch in einem höheren Alter eine neue Beschäftigung zu suchen und nicht den Übergang in den vorgezogenen Ruhestand anzustreben. Wenn expandierende Unternehmen nicht genügend Fachkräfte finden, dann können wir auch nicht das Wachstum generieren, was wir brauchen, um wieder aus diesem konjunkturellen Tal herauszukommen. Das ist die Haupt-Herausforderung, die wir in den kommenden Jahren auf dem Arbeitsmarkt haben. Fehlende Fachkräfte bedeuten nicht nur, dass Züge nicht fahren oder Restaurants nicht öffnen. Das heißt auch, dass wachsende, technisch hoch entwickelte Unternehmen ihr Potenzial nicht entfalten können. Das heißt für uns alle weniger Wachstum, weniger Wohlstand.

Der Beitrag ist zuerst bei ntv.de erschienen. Das Nachrichtenportal gehört wie Capital zu RTL Deutschland.

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