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Koalitionskrise Das Problem dieser Regierung hat einen Namen

Bundeskanzler Olaf Scholz bei einer Kabinettsitzung Ende März in Berlin
Bundeskanzler Olaf Scholz bei einer Kabinettsitzung Ende März in Berlin
© dpa / Kay Nietfeld / Picture Alliance
Bundeshaushalt, Verteidigung, Kindergrundsicherung: Die Koalition von Olaf Scholz findet nirgendwo eine gemeinsame Linie – weil sich der Kanzler aus allem raushält 

Nach der kleinen Osterpause lässt sich ein kleiner Fortschritt vermelden: Die wortreiche Suche nach dem Verantwortlichen für die deutsche Dauerkrise ist nun endlich dort angekommen, wo sie schon seit mehr als einem Jahr hingehört: im Kanzleramt. Respektive beim Kanzler höchstpersönlich, Siegfried Russwurm sei Dank. 

„Im Kanzleramt wird der Ernst der Lage offenbar unterschätzt“, sagte der Präsident des Industrieverbands BDI diese Woche in einem bemerkenswert offenen Interview mit den Kollegen der „Süddeutschen Zeitung“. Die Gespräche mit dem Wirtschaftsminister oder dem Finanzminister seien regelmäßig und intensiv, aber „vom Kanzler hören wir zuletzt häufig das Zitat ‚die Klage ist das Lied des Kaufmanns‘.“ So könne man die Sicht der Wirtschaft „abkanzeln“, stellte Russwurm frustriert fest, aber es sei nun mal so: Sein Verband liefere konkrete Reformvorschläge, „Antwort aus dem Kanzleramt: bisher Fehlanzeige.“ Auch habe der BDI 442 Anregungen zum Bürokratieabbau gemacht, übernommen habe die Regierung davon: elf. Russwurms Urteil über zwei Jahre Ampel-Regierung unter der Führung von Olaf Scholz: „Es waren zwei verlorene Jahre – auch wenn manche Weichen schon in der Zeit davor falsch gestellt wurden.“  

Nun muss man Industrielobbyisten immer ein gewisses Maß an Eigeninteresse und Opportunismus unterstellen, zudem muss eine Regierung auch nicht immer gleich alles umsetzen, was ein Industrieverband den lieben langen Tag so fordert. Gerade bei den großen Industriekonzernen, die in einem Verband wie dem BDI organisiert sind, steht das Partikularinteresse nicht selten vor dem Interesse der Allgemeinheit, auch der allgemeinen Wirtschaft – siehe die hohen Subventionen für einzelne Chipkonzerne (die Russwurm erwartbar verteidigte).   

Ungewöhnliche Abrechnung

Dennoch muss man festhalten: Mit dem obersten Chef legen sich Verbandspräsidenten und Top-Manager ausgesprochen ungern an, eher arbeiten sie sich an einzelnen Ministern ab. Diese feine Differenzierung ist auch klug, denn so kann man bei aller Kritik hoffen, dass eine Ebene darüber, also im Kanzleramt, immer noch mal jemand ans Telefon geht, wenn man wirklich ein dringendes Anliegen hat. Insofern war Russwurms scharfe Abrechnung mit dem Kanzler tatsächlich ungewöhnlich. Seine Sätze offenbaren, dass der Frust in der Wirtschaft tief sitzt – und dass er sich nicht länger festmacht an den üblichen Bruchlinien, sondern ganz konkret an einer Person und einem Amt. Wie gesagt, dies ist ein großer Zugewinn an Ehrlichkeit.  

Dabei zieht sich das Motiv des abwesenden Kanzlers im Grunde durch die gesamte Regierungszeit dieser Ampelkoalition. SPD, FDP und Grüne waren kaum sechs Wochen im Geschäft, da fragten die ersten Kommentatoren schon: „Wo ist eigentlich Olaf Scholz?“ Begründet wurde seine Abwesenheit damals – nicht unverständlich – mit dem dringenderen Problem von Krieg und Frieden in Europa, das viel Diplomatie jenseits der Kameras und Mikrofone erfordere. Doch wenn man ehrlich ist, ist die Abwesenheit des Kanzlers ein Grundrätsel (und Grundproblem) dieser Koalition geblieben, das sich auch nicht mehr mit wichtigeren Aufgaben wegargumentieren lässt.   

Vielmehr hat Scholz’ Schweigen über die diversen Konflikte seiner Koalition im vergangenen Jahr schon etwas Surreales gewonnen. All die kleinteiligen Diskussionen und Streitereien verliefen stets entlang recht absehbarer Konfliktlinien: Lindner gegen Habeck, Lindner gegen Paus, Habeck gegen Wissing, und so weiter. Nur der oberste Chef, der das alles zusammenhalten und anführen soll und dessen liebster Satz in jüngster Zeit lautet: „Ich habe entschieden, dass…“, – er spielte in dem ermüdenden Hickhack seiner Koalitionäre keine große Rolle. 

Scholz lässt die Dinge laufen

Es ist offensichtlich, dass Scholz’ demonstrative Zurückhaltung häufig nicht seiner großen Weisheit geschuldet ist, der er sich selbst, etwa im Konflikt mit Russland und möglichen Waffenlieferungen an die Ukraine, gerne rühmt. Wahrscheinlicher ist vielmehr ein schlichteres Motiv: Er hat in vielen Fragen offenbar selbst keine Idee, keinen Plan und keine Orientierung, und wenn er sie doch haben sollte, dann behält er sie für sich, weil er nicht weiß, wie er sie in seiner SPD, in seinem Ampelbündnis oder auch im Zusammenspiel mit der Opposition und den Ländern durchsetzen könnte.   

Man kann die Streitthemen, die die Nachrichten beinahe täglich füllen, sogar genau danach sortieren: Natürlich weiß der frühere Arbeits- und Sozialminister Scholz, dass in einer alternden Gesellschaft die staatlichen Rentenleistungen nicht immer weiter ausgebaut werden können, weil das System sonst unfinanzierbar wird. Natürlich weiß Scholz auch, dass ein staatliches Transfersystem wie das neue Bürgergeld Akzeptanzprobleme bekommt, wenn die Leistungen allzu großzügig ausfallen. Aber er lässt das Gegenteil geschehen, weil er sich seiner SPD gebeugt hat, die mit diesem Programm zwar nur noch auf 15 bis 17 Prozent in den Umfragen kommt, auf die er aber eben doch nicht verzichten kann.  

Scholz wird auch wissen, dass ein Vorhaben wie die leidige Kindergrundsicherung nicht mehr in die Zeit passt, wenn das Geld überall knapp ist und die geplanten Mehrausgaben vor allem in den Aufbau neuer Verwaltungsstrukturen fließen und nicht in bessere Leistungen. Aber er lässt die Dinge laufen, weil er die Grünen nicht verärgern will und tatsächlich deren absehbare Retourkutsche bei der Rente fürchten muss, getreu dem alten Gleichgewicht des Schreckens, nach dem diese Koalition funktioniert: Auge um Auge, Zahn um Zahn.  

Und Scholz schafft es auch nicht – seinem Angebot für einen „Deutschland-Pakt“ aus dem letzten Herbst zum Trotz – die Opposition für eine größere Staatsreform zu gewinnen: eine Reform der öffentlichen Verwaltung, neue Strukturen im Föderalismus und der Finanzen zwischen Bund und Ländern. All dies wäre nämlich Voraussetzung für ein wirklich großes Reformpaket, mit dem Bürokratie abgebaut, Verwaltungsprozesse vereinfacht und finanzielle Spielräume für Investitionen und Steuerentlastungen geschaffen werden. Also jenes Wirtschaftsprogramm, das die Rahmenbedingungen in Deutschland verbessern und Verlässlichkeit bringen würde, auf die so viele Unternehmen gerade dringlich warten.  

Der Finanzminister allein kann das nicht leisten, der Wirtschaftsminister auch nicht. Es wäre allein Scholz’ Aufgabe. Nach den Erfahrungen der vergangenen 24 Monate ist aber leider nicht damit zu rechnen, dass er diese Aufgabe tatsächlich noch mal ergreift. 

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