Capital: Herr Müller, die Babyboomer gehen bald in Rente, gleichzeitig kommen kaum noch junge Fachkräfte nach – macht unterm Strich weniger Erwerbstätige. Wie soll Deutschland denn noch wachsen mit lauter Senioren?
MARTIN MÜLLER: Es wird in der Tat schwierig. Wenn wir weiter business as usual machen wie in den vergangenen Jahren, dürfte das Bruttoinlandsprodukt nur noch schwach wachsen. Vorausgesetzt, die Trends bei Zuwanderung, Arbeitsproduktivität, Arbeitszeit und Erwerbstätigenquoten entwickeln sich weiter wie bisher. Klar ist: Die Folgen des demografischen Wandels sind umwälzend, der Handlungsbedarf drängend.
Sie berechnen für dieses Weiter-so-Szenario bis 2050 ein durchschnittliches Wirtschaftswachstum von 0,7 Prozent im Jahr. Das wäre weniger als in den Jahren seit 2000. Was wären die Folgen?
Zunächst mal würden der Volkswirtschaft etwa 20 Mrd. Euro im Jahr fehlen. Das ist eine Herausforderung, denn wir wollen ja investieren in Klimaschutz und Rüstung. Deswegen brauchen wir dringend Wirtschaftswachstum. Wenn die Konjunkturschwankungen so weitergehen wie bisher, werden wir aber alle drei Jahre eine Stagnation oder Rezession haben. Das würde auch zu sozialen Verwerfungen führen.
Wer wäre davon besonders betroffen?
Durch die Bank wären alle betroffen. Natürlich gibt es besonders große personelle Engpässe in Branchen wie dem Baugewerbe oder der medizinischen Versorgung. Aber grundsätzlich müssen wir überall die Lücken möglichst gering halten, damit Deutschland wettbewerbsfähig bleibt. Das gilt vor allem für die MINT-Berufe.
In Ihrer Studie nehmen Sie Japan als Beispiel. Das Land hat in den 1990ern eine ähnliche Entwicklung durchgemacht, wie sie Deutschland nun bevorsteht. Was können wir von Japan lernen?
In Japan ist auffällig, dass die Erwerbsquote bei Älteren deutlich höher ist als in Deutschland und dass die Japaner eine höhere Lebenserwartung haben. Das Prinzip bei der Leistungsfähigkeit ist: „Use it or lose it“. Wenn ich nichts tue, um meine körperlichen und geistigen Fähigkeiten zu halten, gehen sie verloren. Da müssen wir ran. Unternehmen sollten zum Beispiel Fitnesskurse anbieten. Zusätzlich ist Bildung sehr wichtig.
Inwiefern?
Bildung ist ganz zentral, weil es auf alles einzahlt. Nicht nur können Menschen länger arbeiten, wenn sie geistig fit bleiben. Wir sehen auch, dass die Erwerbsquote bei höheren Bildungsniveaus größer ist. Dort braucht es Investitionen in das Bildungssystem.
Sie fordern, dass Deutschland im Kampf gegen den Fachkräftemangel „alle Register“ zieht. Was heißt das neben Bildung konkret?
Man sollte auch finanziell ansetzen, zum Beispiel mit steuerlichen Anreizen für Menschen, die länger arbeiten – wie die Idee hinter der Aktivrente. Oder auch ein höheres Rentenalter ist eine Überlegung. Unternehmen können zudem viel tun, um Arbeitsbedingungen zu schaffen, dass die Menschen gerne arbeiten. Sie sollten an den Big Three der Arbeitsmotivation ansetzen: Selbstwirksamkeit und Erfolgserlebnisse, Autonomie bei der Arbeitsgestaltung und Wertschätzung.
Das klingt ja gar nicht nach knallharter Haushaltspolitik oder handfester Volkswirtschaft, sondern nach sozialen Maßnahmen.
An beidem muss man arbeiten. Natürlich muss sich Leistung lohnen. Aber es kommt immer auch auf die Arbeitsbedingungen an. Niemand arbeitet gerne, wenn der Chef überall reinredet.
Angenommen, wir stellen all diese Weichen für die Zukunft zeitnah und vor allem richtig. Gibt es ein Szenario, in dem die deutsche Wirtschaft stärker wächst als zuvor?
Wenn wir uns die vergangenen Jahrzehnte anschauen, ist der Zusammenhang klar: Die Arbeitsstunden blieben konstant, trotzdem stieg das Bruttoinlandsprodukt – weil die Arbeitsproduktivität gestiegen ist. Jetzt sinken aber die Arbeitsstunden durch den demografischen Wandel und bei der Arbeitsproduktivität stagnieren wir. Da müssen wir ran, sonst gibt es kein Wirtschaftswachstum. Das heißt: Innovationen, Investitionen, privates Kapital und Infrastrukturausbau.