Als Peter Handley, Referatsleiter für Rohstoffe in der DG Grow, Mitte Juli erste Bausteine für das Rohstoffpaket der EU vorstellte, verriet er nicht, ob auch strategische Rohstofflager Teil davon sein werden. Die Industrie fordert schon seit Beginn der Pandemie politische Unterstützung für dieses Instrument. Denn höhere Lagerbestände bieten einen Puffer, mit dem Unternehmen kurz- bis mittelfristig Lieferengpässe überbrücken, Preisrisiken abfedern und so die Abhängigkeit von Zulieferern verringern können.
Die EU-Kommission prüfe zumindest derzeit „mögliche Optionen für strategische Vorräte auf EU-Ebene“, sagte eine EU-Beamtin zu Europe.Table. In der Erklärung von Versailles hatten Staats- und Regierungschefs der EU der Kommission das Mandat erteilt, eine strategische Bevorratung kritischer Rohstoffe zu sondieren. Auch der im November 2021 angenommene Bericht des Parlaments fordert die Kommission auf, das „Anlegen strategischer Lagerbestände“ in den Aktionsplan aufzunehmen. Es geht dabei um die wirtschaftlich wichtigsten Rohstoffe mit hohem Versorgungsrisiko, welche die Kommission zuletzt 2020 auf einer Liste festgehalten hat.
„Die Verantwortung für die Sicherstellung einer konstanten Versorgung für die Herstellungsprozesse liegt jedoch in erster Linie bei der Industrie“, erklärte die Kommissionsvertreterin. „Diese sollten auf ihre Versorgungssicherheit achten, ihre Lieferungen diversifizieren und in widerstandsfähige Lieferketten investieren.“
Unternehmen beteiligen sich an Bergbauprojekten
Dies unterstützt auch Matthias Wachter, Abteilungsleiter für Rohstoffe beim Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI). „Unternehmen kennen ihren Rohstoffbedarf und die Beschaffungsmärkte besser als staatliche Institutionen.“ Deshalb sei eine Lagerhaltung unter der Verantwortung der Industrie die effizienteste Lösung. Das Problem: Bislang wirkt es sich in der Bilanz negativ aus, wenn Unternehmen Rohstoffe lagern – daher die seit Jahrzehnten praktizierte just-in-time-Produktion. „Lagerhaltung ist immer mit zusätzlichen Kosten für die Unternehmen verbunden“, erklärt Wachter. Gelagertes Material bedeutet zudem eine deutlich höhere Kapitalbindung. „Es fehlt somit ein Anreiz, Lagerhaltung für kritische Rohstoffe für schlechte Zeiten zu betreiben.“
Im Juli 2020, im ersten Jahr der Pandemie, befragte der BDI seine Mitglieder nach den Auswirkungen der Pandemie auf die Rohstoffversorgung. Mehr als die Hälfte der befragten Unternehmen hatten damals die eigene Lagerhaltung erhöht. Die meisten von ihnen wünschten sich dafür eine stärkere politische Unterstützung, etwa durch Steuererleichterungen für die Lagerhaltung. Der BDI schlägt eine „Rohstoffbevorratungsrücklage“ vor. Bilanziell und steuerlich sollte die Lagerung erst dann wirksam werden, wenn das Lager wieder aufgelöst und der entsprechende Rohstoff eingesetzt wird.
In anderen Ländern ist es durchaus üblich, auch nicht-fossile Rohstoffe zu bevorraten. Die chinesische Behörde für Lebensmittel und strategische Reserven lagert zum Beispiel Kupfer, Aluminium und Zink. Staatliche Kredite ermöglichen Importe in Phasen niedriger Preise. Bei steigenden Rohstoffpreisen gibt die Behörde dann Reserven frei, um die Unternehmen zu entlasten.
Als erfolgreiches Beispiel gilt auch Japan. Dort beteiligen sich Unternehmen an internationalen Bergbauprojekten. „Das ist eine indirekte Art der Lagerhaltung, denn durch die direkte Beteiligung an einem Bergwerk besteht anteilig eine langfristige Verfügbarkeit“, erklärt Peter Buchholz, Leiter der Deutschen Rohstoffagentur (DERA). „Mit langfristigen Lieferverträgen kann man die just-in-time-Produktion über die Lieferkette hinweg gut organisieren und langfristig stabile Preise sichern.“
Staatliche Reserven für Verteidigungsindustrie
Darüber hinaus koordiniert die staatliche Japan Oil, Gas and Metals National Corporation (JOGMEC) mit den Unternehmen den Rohstoffbedarf für Krisenfälle, kauft diese dann auf den Weltmärkten ein und lagert sie. Die JOGMEC exploriert auch neue Rohstoffvorkommen, um die Lizenzen dann an japanische Unternehmen zu verkaufen.
Auch in Deutschland könnten staatliche Reserven jenseits der strategischen Öl- und Gasvorräte sinnvoll sein, erklärt Buchholz. „Wenn der Staat für eine bestimmte Lagerhaltung zuständig ist, kann er die Risikovorsorge volkswirtschaftlich besser steuern, beispielsweise für strategisch relevante Industrien und den Bevölkerungsschutz.“ Eine Möglichkeit könnte deshalb das US-amerikanische Modell sein: Dort bevorratet die Defense Logistics Agency, die zum Verteidigungsministerium gehört, bestimmte, für die Verteidigung relevante Rohstoffe. Derzeit lagern 42 Metalle – von Basismetallen wie Zink, Kobalt, Chrom und Mangan bis hin zu Edelmetallen wie Iridium und Platin – mit einem Marktwert von etwa 1,1 Milliarden US-Dollar an sechs verschiedenen Standorten in den USA.
In Europa haben Frankreich, Schweden, die Slowakei und Großbritannien ab den 1970er und 1980er-Jahren strategisch wichtige Metalle bevorratet. Auch die Bundesrepublik plante 1979, für Wirtschaftszwecke eine Rohstoffreserve anzulegen. Eine damals diskutierte Option waren steuerliche Anreize für den privaten Sektor, der die Verantwortung für die Lager tragen sollte. Die Regierung fürchtete jedoch, die Vorratshaltung könnte so als Mittel zur privatwirtschaftlichen Spekulation genutzt werden. Der Plan wurde daher kurze Zeit später wieder aufgegeben.
Heute denkt man wieder darüber nach: Das Bundeswirtschaftsministerium prüfe „Unterstützungsmaßnahmen, die über die im Jahre 2020 beschlossenen Maßnahmen der Rohstoffstrategie der Bundesregierung hinausgehen“, sagte eine Sprecherin zu Europe.Table. „Dies schließt auch verschiedene Aspekte der Lagerhaltung ein.“ Die Prüfungen möglicher Maßnahmen laufen noch, bislang gibt es laut dem BMWK noch keine Ergebnisse.
Lager anlegen, wenn Preise sinken
Den Zeitrahmen für die Lagerhaltung durch die Unternehmen sollte die Politik vorgeben, findet Matthias Wachter vom BDI. Er schlägt vor: „Wenn man ein paar Monate Puffer hat, könnte man im Falle einer Lieferunterbrechung weiter produzieren und sich in der Zwischenzeit alternative Bezugsquellen sichern.“ Wenn Vorräte für mindestens ein halbes Jahr reichen, könne man in der Regel kurz- und mittelfristige Krisen gut überstehen, sagt auch DERA-Leiter Peter Buchholz.
Angesichts der hohen Rohstoffpreise wäre eine Einrichtung von Lagern zurzeit aber lediglich sinnvoll, um die Produktion aufrechtzuerhalten, so Buchholz. Für eine strategische Lagerung müsse man warten, bis die Preise wieder sinken. „Rohstoffmärkte verlaufen zyklisch und sind sehr volatil“, erklärt er. „Antizyklisches Verhalten müsste in der Industrie viel stärker verankert sein.“ China ist in dieser Hinsicht strategisch besser aufgestellt. Deren Importzahlen für Kupfer zeigen: China importiert massiv, wenn die Preise niedrig sind.
Laut einer von der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) in Auftrag gegebenen Studie sind drei Faktoren ausschlaggebend für eine erfolgreiche Umsetzung und Nutzung von Rohstofflagern: eine konstante Nachfrage und daher vorhersehbare Verkäufe, Materialspezifikationen sowie das Verhältnis von Rohstoffpreisen und verfügbaren Finanzmitteln. Peter Buchholz schlägt einen Planungshorizont von etwa fünf Jahren vor. In diesem Zeitraum könne man etwa zu niedrigen Preisen Material einkaufen, dieses einlagern und dann wettbewerbsfähig produzieren, wenn die Preise wieder steigen. In strategisch wichtigen Branchen könnte man auch über zehn Jahre planen und Bestände in günstigen Phasen immer wieder auffüllen.
Welche Rohstoffe sich überhaupt für eine Lagerung eignen, ist eine weitere Frage. Einige Metalle sind nicht witterungsbeständig und rosten schnell. Zudem sind unverarbeitete Rohstoffe besser für die Lagerung geeignet als verarbeitete Materialien – allerdings findet die Verarbeitung zurzeit vor allem in China statt. „Es ergibt keinen Sinn, einen Rohstoff hier einzulagern, wenn man ihn nicht weiterverarbeiten kann“, sagt Peter Buchholz.
Strategische Rohstofflager müssen also Teil eines größeren Pakets sein. Matthias Wachter spricht vom „Mehr-Säulen-Modell“: „Wir brauchen auch eine Diversifizierung von Bezugsquellen, mehr Recycling und mehr Förderung in Deutschland und Europa.“