Die Lage in der Energiekrise könnte deutlich dramatischer sein. Dank milder Temperaturen und damit auch sparsamen Heizens sind die Gasspeicher zu mehr als 95 Prozent gefüllt. Bleibt das Wetter so wie es ist, dürften diese demnächst wohl randvoll sein. Deutschland profitiert davon, dass es weniger Gas verbraucht, als Nachschub eingelagert wird. Auch der Preis ist deutlich zurückgekommen. Das ist erfreulich. Entwarnung bedeutet es aber nicht.
Die Preise am Rohstoffmarkt spiegeln aber derzeit vor allem diese komfortable Lage wider. Der als richtungsweisend geltende Terminkontrakt TTF für niederländisches Erdgas kostete am Vortag für November zeitweise nur noch 100 Euro je Megawattstunde (MWh). Damit sank der TTF-Kontrakt auf den tiefsten Stand seit Juni. Am Dienstagmorgen setzte er die Talfahrt fort bis auf 94,59 Euro je Megawattstunde. Ende August kostete der TTF-Kontrakt noch 330 Euro je MWh. Kommen wir möglicherweise viel besser ohne russisches Gas klar, als angenommen? Wie tief werden die Preise noch purzeln, wenn die Lager erstmal bis zum Anschlag gefüllt sind?
Zunächst einmal stellt die Bundesnetzagentur klar: Volle Gasspeicher sind „eine gute Nachricht. Das wird im Winter helfen“. Anders als mancher annimmt, seien die derzeitigen Füllstände aber nicht ungewöhnlich für diese Jahreszeit. Selbst mit sinkenden Temperaturen sei „in den kommenden Wochen nicht zu erwarten, dass die Ausspeicherung von Gas beginnen wird“. Einen Anlass zu übermäßiger Euphorie angesichts voller Gasspeicher gibt es aus Behördensicht deshalb aber nicht. „Die Lage ist angespannt, und eine Verschlechterung der Situation kann nicht ausgeschlossen werden“, warnt die Bundesnetzagentur in ihrem jüngsten Lagebericht.
Je voller die Speicher, desto besser
Wie die Behörde gegenüber ntv.de betont, kann die deutsche Gasversorgung im Winter nie ausschließlich aus den Speichern erfolgen, weil die eingespeicherten Mengen dafür einfach nicht ausreichen. „Wir benötigen immer zusätzlich einen kontinuierlichen Import von Gas. Diese Mengen kommen aktuell zu einem nennenswerten Anteil aus LNG, das vor allem über die Terminals in den Niederlanden und Belgien zu uns kommt“, so die Netzagentur.
Würde der komplette Gasverbrauch nur aus den jetzigen Lagerbeständen gespeist, würden die Vorräte laut einer Überschlagsrechnung nur etwa 72 Tage reichen – vorausgesetzt der Verbrauch wäre ähnlich wie in den Vorjahren. Wird nicht mehr genug Gas importiert, müssen diese Vorräte verhindern, dass wir ohne Gasabschaltungen durch den Winter kommen. Also je voller die Speicher sind, umso besser.
Das sprichwörtliche Fass zum Überlaufen bringen wird die angestrengte Einkaufstour nach Gas – zumindest vorerst – nicht. Zum einen existiert kein wirkliches Überangebot, weil das eingespeicherte Gas nicht ausschließlich für deutsche Verbraucher und Firmen reserviert ist. Ist mehr Gas vorhanden, als benötigt wird, kann es verkauft werden. Der Verkauf folgt dann in aller Regel dem höchsten Preisangebot und dem am meisten liquiden Markt. Im europäischen Energiebinnenmarkt gilt das Prinzip der gegenseitigen Solidarität.
Zum anderen gibt es auch noch die Möglichkeit, weniger oder gar kein Gas mehr einzukaufen, wenn Deutschland sein „Ziel übererfüllt hat“, wie Tobias Federico vom Beratungsunternehmen Energy Brainpool ntv.de sagt. Ladungen von LNG-Tankern, die Europa entweder nicht löschen kann oder nicht braucht, könnten Reeder auch nach Japan oder in andere Länder in Asien verschiffen. „Das LNG-Geschäft ist wesentlich dynamischer als Pipeline Gas. Etwas das in der Politik noch nicht richtig verstanden wurde“, so Federico.
Die Gaspreise dürften wieder steigen
Der Gasverbrauch ist stark an die Witterung geknüpft. Europa profitiert in der Energiekrise derzeit nicht von vollen Gasspeichern, sondern vor allem von den milden Temperaturen. Dass es schon demnächst kälter werden dürfte, davon darf aber wohl ausgegangen werden. Ob das Gas im Winter knapp wird und möglicherweise rationiert werden muss, ist zwar offen. Am Terminmarkt ist aber zumindest bereits ein größerer Gasverbrauch eingepreist: Der Dezember-Kontrakt notiert bei Kursen über 140 Euro je MWh, auch die Preise für die folgenden Kontraktmonate liegen höher.
Was die Gaspreise derzeit dämpft, hat laut dem dänischen Ökonom Andreas Steno Larsen weniger mit den aktuellen Füllständen, als mit den vielen ankommenden LNG-Tankern aus Übersee zu tun, die sich vor spanischen Häfen stauen. Wenn Börsianer sähen, dass eine Ware angeboten, aber vom Käufer zeitweise nicht in vollem Umfang abgenommen werden könne, bedeute das ein Überangebot, der Gaspreis fällt, zitiert das Portal Finanzmarktwelt den ehemalige Chief Strategist von der skandinavischen Großbank Nordea und aktuellen Senior Editor bei Real Vision. Bis die Heizsaison richtig losgeht, wird die Erdgaskurve aus seiner Sicht weiter nach unten ziehen.
Trotz voller Speicher, großzügiger LNG-Ladungen sowie milder Temperaturen verliert der Appell an Verbraucher und Industrie, Gas zu sparen, weder für dieses, noch fürs kommende Jahr an Gültigkeit. Um Angebot und Nachfrage in der Balance zu halten, braucht es aus Sicht der Fachleute deutlich mehr Anstrengungen. Der Chef der Bundesnetzagentur, Klaus Müller, geht davon aus, dass Privathaushalte ein Fünftel der Energie einsparen müssen, damit Deutschland gut durch den Winter kommt. Schaffen die Haushalte dieses Ziel nicht, wird es zu Kürzungen in der Industrie kommen.
Auf Null fallen wird der Gaspreis mit Blick auf die Füllstände also voraussichtlich nicht, wie Andreas Steno Larsen provokant und wohl eher rhetorisch auf Twitter fragt – allein schon wegen des Winters 2023/24, wenn russisches Gas für das Auffüllen der Gasspeicher aufgrund von Sanktionen wegfällt.
Nicht in falscher Sicherheit wiegen
Er selbst macht die Rechnung bei Flüssiggas auf: „LNG macht 40 Prozent der derzeitigen Gasversorgung in Europa aus, aber aufgrund des Mangels an russischem Gas liegt man in Europa immer noch 20 bis 25 Prozent unter den üblichen Mengen. Der vor uns liegende Winter scheint sicher zu sein, aber im Jahr 2023 könnte es erneut zu Turbulenzen kommen,“ schreibt Andreas Steno Larsen. Spätestens dann dürfte der Gaspreis wieder neue Höhen erklimmen.
Möglichst große Reserven vorzuhalten, ist wichtig. Aus dem Grund hat die Bundesregierung per Ministerverordnung die Werte für die Gasspeicher auch angehoben. Das Ziel, am 1. November einen Füllstand von 95 Prozent vorzuweisen, wurde erfreulicherweise schon am 13. Oktober erreicht. Am 1. Februar 2023 sollen die Speicher immer noch zu 40 Prozent gefüllt sein. Ob das klappt, wird sich zeigen.
Volle Speicher allein werden die Energiekrise aber nicht beenden. Dafür sind sie schlicht zu klein, um die Industrie und Verbrauchern über einen ganzen Winter zu bringen. Auch volle LNG-Tanker werden nicht dafür sorgen, dass Erdgas demnächst verschenkt wird oder Geld draufgezahlt werden muss, um das Gas kurzfristig loszuwerden – nur weil das Wetter mild und die Speicher voll sind. Ein normaler Markt brauche in solchen Fällen „Überkapazitäten beim Speicher“, um negative Preise zu verhindern, sagt Federico von Brainpool Energy. „Die kommenden zwei Winter sind aber nicht normal“.
Dieser Artikel ist zuerst auf n-tv.de erschienen.