Jeffrey D. Sachs ist Professor für nachhaltige Entwicklung, Professor für Gesundheitspolitik und Gesundheitsmanagement sowie Direktor des Earth Institute der Columbia University
Für die USA und die anderen Mächte wird es Zeit, den Nahen und Mittleren Osten im Rahmen der nationalen Souveränität und der Charta der Vereinten Nationen sich selbst regieren zu lassen. Während die USA über weitere Militäraktionen im Irak und ein Eingreifen in Syrien nachdenken, sollten sie zwei grundlegende Wahrheiten erkennen:
Erstens haben Interventionen die USA im letzten Jahrzehnt Billionen Dollar und Tausende von Leben gekostet. Trotzdem hatten sie immer wieder eine destabilisierende Wirkung auf die Region und führten in den betroffenen Ländern zu großem Leid. Zweitens verfügen die dortigen Regierungen – in Syrien, Saudi-Arabien, der Türkei, dem Iran, dem Irak, in Ägypten und anderswo – sowohl über Anreize als auch über Mittel für eine Annäherung. Was sie bremst, ist der Glaube, dass ihnen die USA oder andere externe Mächte (wie Russland) stellvertretend einen entscheidenden Sieg liefern könnten.
Als nach dem Ersten Weltkrieg das Osmanische Reich zusammenbrach, schnitzen sich die damals führenden Mächte Großbritannien und Frankreich Nachfolgestaaten zurecht, um ihre Kontrolle über das Öl des Mittleren Osten, die Geopolitik und die asiatischen Handelswege zu sichern. Ihr Zynismus – der sich beispielsweise im Sykes-Picot-Abkommen widerspiegelte, führte zu einem dauerhaften Muster der Einmischungen von außen. Als die USA danach zur Weltmacht aufstiegen, behandelte es die Region auf die gleiche Weise: Trotz demokratischer Reden wurden immer wieder Regierungen eingesetzt, gestürzt, bestochen oder manipuliert.
Interventionen haben alles nur schlimmer gemacht
Beispielsweise setzten die USA und Großbritannien nur zwei Jahre, nachdem der demokratisch gewählte iranische Premierminister Mohammed Mossadegh 1951 die Anglo-Iranische Ölgesellschaft verstaatlicht hatte, ihre Geheimdienste ein, um ihn zu stürzen und den unfähigen, gewalttätigen und autoritären Schah Resa Pahlewi an die Macht zu bringen. So überraschte es nicht, dass die Islamische Revolution, die den Schah 1979 entmachtete, eine Welle heftigen Antiamerikanismus mit sich brachte. Anstatt eine Annäherung anzustreben, schlugen sich die USA dann in den 1980ern während des achtjährigen Kriegs zwischen dem Irak und dem Iran auf die Seite von Saddam Hussein.
Dem Irak ging es mit den Briten und den Amerikanern allerdings nicht besser. Nach dem Ersten Weltkrieg gründeten die Briten rücksichtslos einen unterwürfigen irakischen Staat und unterstützten die sunnitischen Eliten, um die schiitische Bevölkerungsmehrheit zu kontrollieren. Nachdem in den 1920ern Öl gefunden wurde, übernahmen die Briten mit militärischer Macht die Kontrolle über die Ölfelder.
Der Putsch von 1968, der die Baath-Partei – und Saddam Hussein – an die Macht brachte, wurde von den USA unterstützt. Als Saddam 1990 allerdings Kuwait besetzte, wendeten sich die USA gegen ihn und waren seitdem ständig in die irakische Politik verwickelt. Sie führten dort zwei Kriege, sanktionierten das Regime, stürzten Saddam im Jahr 2003 und versuchten wiederholt, eine als akzeptabel geltende Regierung einzusetzen – zuletzt in diesem Monat.
Das Ergebnis war nicht weniger als eine Katastrophe: die Zerstörung des Irak als funktionierende Gesellschaft in einem fortwährenden, von externen Mächten angefeuerten Bürgerkrieg, der zum wirtschaftlichen Ruin und Zusammenbruch des Lebensstandards führte. Seit 1990 sind hunderttausende Iraker durch Gewalt ums Leben gekommen.
Korruption, politisches Sektierertum und brutale Gewalt
Syrien war nach dem Ersten Weltkrieg jahrzehntelanger französischer Herrschaft ausgesetzt, und danach, seit den 1960ern, abwechselnd guten und schlechten Beziehungen mit den USA und Europa. Im letzten Jahrzehnt haben die USA und ihre Verbündeten versucht, die Regierung von Präsident Baschar al-Assad zu schwächen und schließlich, seit 2011, zu stürzen. Erreicht werden sollte dies hauptsächlich durch einen Stellvertreterkrieg, um den iranischen Einfluss auf Syrien zu unterminieren. Für das syrische Volk war das Ergebnis niederschmetternd. Assad blieb an der Macht, aber als Ergebnis einer von den USA und ihren Verbündeten unterstützten Revolte (während Russland und der Iran sich hinter Assad stellten) starben mehr als 190.000 Syrer, und Millionen mussten ihre Heimat verlassen. Und jetzt wird berichtet, dass einige US-Politiker über eine Allianz mit Assad nachdenken, um den militanten Islamischen Staat zu bekämpfen, dessen Aufstieg durch die von den USA unterstützte Revolte erst möglich wurde.
Nach Jahrzehnten zynischer und oft geheimer Interventionen durch die USA, Großbritannien, Frankreich, Russland und andere fremde Mächte beruhen die Institutionen der Region hauptsächlich auf Korruption, politischem Sektierertum und brutaler Gewalt. Und trotzdem: Immer wenn eine neue Nahostkrise ausbricht (wie die aktuelle, ausgelöst durch die Gebietsgewinne des Islamischen Staates), mischen sich die USA erneut ein, vielleicht um eine Regierung auszutauschen (wie gerade im Irak geschehen) oder neue Bombenangriffe zu starten. So wird die Tagespolitik immer noch durch geheime Absprachen und Gewalt bestimmt.
Manche Beobachter behaupten, die Araber könnten nicht mit Demokratie umgehen. Stattdessen ist es aber eher so, dass den USA die Ergebnisse arabischer Demokratie nicht gefallen, da allzu oft Regierungen gewählt werden, die nationalistisch, israelfeindlich und gefährlich für die Ölinteressen der Amerikaner sind. Wenn die Wahlergebnisse in diese Richtung neigen, werden sie von den USA einfach ignoriert (so wie 2006, als bei Wahlen im Gaza-Streifen die Hamas eine große Mehrheit erlangte).
Zum Frieden in der Region ist es ein langer Weg
Die USA können die Gewaltspirale im Nahen Osten nicht beenden. Der Schaden in Libyen, Gaza, Syrien und im Irak erfordert eine politische Lösung innerhalb der Region, die nicht von außen aufgezwungen ist. Der Uno-Sicherheitsrat muss einen internationalen Rahmen schaffen, der zum Rückzug der Großmächte führt. Er muss die lähmenden Sanktionen aufheben und sich an die politischen Vereinbarungen halten, die von den Regierungen und Fraktionen der Region selbst getroffen werden.
Der Iran, die Türkei, Ägypten, Syrien, Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate usw. kennen sich gegenseitig – dank über 2000 Jahren Handel und Krieg – gut genug, um ihre Angelegenheiten ohne Einmischung der USA, Russlands und der ehemaligen europäischen Kolonialmächte selbst in die Hand zu nehmen. Die Nahoststaaten haben ein gemeinsames Interesse daran, den Zugang ultragewalttätiger Gruppen wie dem Islamischen Staat zu Waffen, Geld und medialer Aufmerksamkeit zu verhindern. Auch teilen sie das Ziel, den Ölfluss zu den Weltmärkten aufrechtzuerhalten – und den größten Teil der Gewinne für sich zu behalten.
Ich behaupte nicht, dass nach dem Rückzug der USA und anderer Mächte alles in Ordnung sein wird. In der Region gibt es genug Hass, Korruption und Waffen, um die Krise noch viele Jahre anzufeuern. Und niemand sollte bald stabile Demokratien erwarten.
Aber so lange sich die USA und andere fremde Mächte weiter in die Region einmischen, werden keine dauerhaften Lösungen möglich sein. Hundert Jahre nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs muss das Kolonialgebahren endlich ein Ende finden. Der Nahe und Mittlere Osten muss die Möglichkeit erhalten, sich selbst zu regieren, und dies nicht unter einer einzelnen Großmacht, sondern unterstützt durch die Charta der Vereinten Nationen.
Aus dem Englischen von Harald Eckhoff
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