Anzeige
Anzeige

Interview Tobi Lütke: „Die meisten Start-ups überfressen sich“

Tobi Lütke, Gründer und CEO von Shopify
Tobi Lütke, Gründer und CEO von Shopify
Von Koblenz an die Nasdaq: Der Deutsche Tobi Lütke hat mit Shopify eine globales Tech-Wunder geschaffen. Hier erzählt er seine Erfolgsgeschichte.

Tobi Lütke, 38, wurde in Koblenz geboren und wanderte später nach Kanada aus. Dort gründete er die Softwarefirma Shopify, deren E-Commerce-Lösung inzwischen von 600.000 Firmen genutzt wird. 2015 brachte Lütke das Unternehmen an die Börse, zu einer Bewertung von mehr als 1 Mrd. Dollar. Im Interview mit Capital.de spricht er über schwierige Anfangstage, über die Weltsicht von Programmierern, über Geld und Familie, über prominente Nutzer wie Kylie Jenner und über die Kritik an seiner Plattform.

Capital: Herr Lütke, nach zwölf Jahren expandieren Sie mit Shopify endlich in Ihre alte Heimat. Warum jetzt?

TOBI LÜTKE: Wir fühlen uns endlich bereit dafür. Das ist zwar gut zehn Jahre später als ich am Anfang geplant hatte, aber E-Commerce ist ein kompliziertes Thema. Es war wichtig, dass wir uns zunächst auf Nordamerika fokussiert haben. Jetzt kümmern wir uns um die Expansion, sind groß genug, um uns um mehrere Sachen gleichzeitig kümmern zu können.

Sie haben jetzt mehr als 3000 Mitarbeiter.

Es ist ein Riesenunterschied zur Zeit als Start-up. Die meisten Start-ups verhungern ja nicht, sondern sie überfressen sich, sie nehmen sich zu viel vor. Wir können uns jetzt auf mehrere Märkte fokussieren. Eine globale Strategie funktioniert bei E-Commerce allerdings nicht – zu viel hängt von unterschiedlichen Kulturen, Infrastrukturen, Regeln und Gesetzen ab.

Aber Shopify ist ja eigentlich ein Software-Unternehmen und damit in der Lage, schnell und global zu skalieren.

Die neue Capital
Die neue Capital
© Capital

Klar, und unsere ersten 100 Kunden kamen auch aus 30 verschiedenen Ländern. Software ist die einzige Industrie der Welt, in der du aus Versehen global sein kannst. Es gibt aber einen Unterschied zwischen global und lokalisiert. Das globale Shopify hat ein paar tausend Kunden in Deutschland gehabt, die sich selber helfen und alles selbst auf ihre Bedürfnisse anpassen mussten. Aber um hier wirklich erfolgreich zu sein, müssen wir viel mehr als nur den Online-Store anbieten – zum Beispiel einen Payment-Gateway, die Möglichkeit Kreditkarten anzunehmen oder ein Content-Delivery-System, damit die Website überall auf der Welt schnell ist.

Bevor Sie Shopify 2006 gestartet haben, betrieben Sie einen Online-Shop für Snowboards.

Ja, und dabei habe ich herausgefunden, dass noch nie jemand eine Software gebaut hat, die einem wirklich hilft, wenn man ein Online-Business von Grund auf starten möchte. Das ist logisch, weil Softwareanbieter natürlich viel mehr Geld verdienen, wenn sie sich an existierende Händler richten, die online gehen wollen. Die haben schon Verkäufe, Geld und Personal. Aber ich wollte ja neu anfangen. Und das hat ganz andere Herausforderungen. Bei uns braucht man keine Server, muss keine Software installieren. Shopify hat dazu geführt, dass diese Industrie gewachsen ist. Auch viele unserer größten Kunden haben mit dem billigsten 29-Dollar-Paket bei uns angefangen. Inzwischen setzen auch Red Bull, Nestlé oder Budweiser auf Shopify. Aber die Leute, die wir fantastisch finden, sind die, die bei uns angefangen haben, die mit uns groß geworden sind. Kylie Jenner hat vor drei Jahren bei uns ihren Lippenstift-Shop gestartet und hat jetzt 900 Millionen davon verkauft. Dafür hat Nike 24 Jahre gebraucht. Die Brands von morgen starten auf Shopify – und die Software wächst mit.

Kylie Jenner hat mit einem Standard-29-Dollar-Paket angefangen, ohne Extrawurst?

Die einzige Sonderbehandlung war, dass wir uns haben informieren lassen, wann sie ihre nächste Lieferung erwartet. Denn wenn Kylie neues Inventar hat, verkauft sie das in der Regel in 16 Sekunden aus. Da musste ich für ein paar Millionen Dollar Hardware nachkaufen, damit wir das bewerkstelligen können.

Lassen Sie uns über Ihre Schulzeit reden. Es heißt, Sie seien ein Schulversager gewesen. Warum war das so?

Ich fand es einfach nicht interessant. Man hat da alle möglichen Lösungen gelernt und dann gehofft, dass man die entsprechenden Probleme irgendwann mal erleben würde. Ich weiß heute, dass ich so nicht lernen kann. Als ich sechs war, haben meine Eltern mir einen Computer gekauft. Das hat mich deutlich mehr interessiert. Mein einziges Ziel für die Schule war, nicht sitzen zu bleiben.

Wann haben Sie angefangen zu programmieren?

Als ich etwa zehn Jahre war. Es war so, dass ich die wenigen Spiele, die ich besaß, bald durchgespielt hatte. Irgendwann habe ich begonnen, die Spiele weiterzuentwickeln. Erst Jahre später wurde mir klar, dass ich da programmiert habe. Als ich herausgefunden habe, dass man das als Beruf machen kann, wusste ich genau, was ich werden wollte.

Haben Sie nur Spiele entwickelt?

Nein, ich habe mir zum Beispiel ein Programm gebaut, das mir meinen Stundenplan optimiert hat – damit ich in so wenige Stunden und so wenige Fächer wie nötig gehen musste.

Sie fingen dann eine Ausbildung zum Fachinformatiker an. Was ist am Umgang mit Computern so faszinierend?

Programmieren ist die moderne Superpower. Mit nichts anderem kommt man heute so nah an die Fähigkeiten von Superhelden. Mit Code erklärt man Computern, was sie tun sollen – und dann machen sie es, für immer, viel besser als ein Mensch. Computer sind die wichtigsten Werkzeuge, die wir auf der Welt haben.

Sehen Programmierer die Welt anders?

Ja, und viele erfolgreiche Firmen werden heute von Entwicklern geführt. Der Grund ist, dass sie große Probleme in kleinere, gut lösbare Probleme unterteilen können. Das funktioniert mit einem Unternehmen genauso wie mit Programmiercode.

Führt das dazu, dass man weniger Angst hat vor großen Herausforderungen?

Ein wenig schon. Ein Beispiel: Als wir überlegt haben, an die Börse zu gehen, habe ich mir als erstes gesagt, ich muss verstehen, für was ist ein IPO eine Lösung ist. Also habe ich Biografien von Leuten gelesen, die Firmen an die Börse gebracht haben. Dann wollte ich verstehen, was die Motivationen der am Prozess Beteiligten sind und habe mich über Investmentbanker informiert. Mit diesen Informationen baut man sich seine Umgebung auf, überlegt, was die Schritte sind, wie das alles zusammen funktioniert. Und so haben wir uns erlaubt, einige Sachen beim IPO anders zu machen.

Zum Beispiel?

Man muss etwa das sogenannte S-1-Schreiben verfassen, in wahnsinnig komplizierter Sprache, weil da unzählige Anwälte drauf schauen und nichts angreifbar sein darf. Aber wir haben herausgefunden, dass das einen Abschnitt mit einem persönlichen Brief enthalten darf. In diesem „Letter from Tobi“ konnte ich dann frei reden und die Firma erklären.

Bei Shopify hat es mehr als zwei Jahre gedauert, bis ich zum ersten Mal ein Gehalt bezogen habe. Das lag dann knapp über dem Mindestlohn
Tobi Lütke

Hatten Sie je den Plan Unternehmer zu werden?

Nein. Es war so, dass ich wegen meiner Frau nach Kanada umgezogen bin. Dort ist es ein halbes Jahr lang Winter. Da muss man Wintersport betreiben, sonst dauert es zu lang. Ich habe mich in den Snowboard-Sport eingearbeitet, über Materialien und verschiedene Modelle gelesen. Und dann habe ich mir gedacht, wenn ich mein Wissen über Snowboards mit meinem technischen Know-how verbinden, kann daraus vielleicht ein Nebenjob werden.

Und bei Shopify? Haben Sie sich da als Start-up-Gründer gesehen?

Ich glaube, wir hatten noch kein Wort dafür. Eine Firma aufzumachen war einfach eine Lösung für ein Problem, das wir hatten. Am Anfang konnte ich das auch alles alleine machen, später haben mir ein paar Freunde geholfen. Irgendwann habe ich begonnen Leute einzustellen, weil ich tagsüber programmiert und mich abends um den Kundenservice gekümmert habe. Was zusätzlich zu Problemen geführt hat: Wenn ein Kunde sich beklagt hat, dass eine Funktion fehlte, wollte ich das nicht zugeben. Also habe ich die ganze Nacht gearbeitet und habe das Feature dazu programmiert.

Wie haben Sie sich zu Beginn finanziert?

Als ich aus Deutschland weggezogen bin, habe ich all meinen Besitz auf Ebay verkauft. Ich bin in Kanada mit Handgepäck und einer Festplatte angekommen. Dadurch hatte ich ein bisschen Geld. Und wir waren sparsam: Bei Shopify hat es mehr als zwei Jahre gedauert, bis ich zum ersten Mal ein Gehalt bezogen habe. Das lag dann knapp über dem Mindestlohn. Unsere Server haben wir gebraucht von anderen Firmen gekauft, die pleite gegangen waren. Jeden Freitag haben wir Fifa-Turniere abgehalten. Wer verlor, musste nach Toronto fahren und die Server im Rechenzentrum einbauen.

Tobi Lütke auf der Bühne
Tobi Lütke auf der Bühne (Foto: PR)

2008 brach die Finanzkrise aus. Was hieß das für Ihre junge Firma?

Wir hatten erst einmal große Sorgen. Es wurde richtig knapp. Mein Schwiegervater schrieb mir Schecks, damit ich alle Mitarbeiter bezahlen konnte. Doch dann haben wir gemerkt, dass sich mehr Leute selbständig gemacht haben, weil sie ihre Jobs verloren hatten. Das wurden unsere Kunden. Und größere Unternehmen mussten sparen – die wechselten zu unserem günstigen Angebot. Die Finanzkrise hat uns die Kunden gebracht. Weil wir nicht Teil des Problems waren, sondern Teil der Lösung.

Gab es den einen Moment, ab dem Shopify so richtig durchstartete?

2010 waren wir profitabel, wir standen wir vor der Frage, ob wir VC-Geld aufnehmen sollten. Also habe ich ein Experiment gemacht. Ich habe fünf Leuten gesagt: Liefert mir Marketing-Ideen, ihr dürft jeweils 10.000 Dollar investieren. Das Ergebnis war: Jede der fünf Ideen steigerte das Wachstum. Damit war klar, dass wir mehr Kapital aufnehmen sollten. Ich habe also zum ersten Mal VCs zurückgerufen. Die Firma ist damit von einem Lifestyle- zu einem Growth-Business geworden. Das war die größte Änderung, viel größer als die des Börsengangs.

War Geld jemals ein Antrieb für Sie?

Nicht wirklich. Ich habe mal meinen Golf gegen einen Tesla getauscht. Aber ansonsten ist der Unterschied zwischen viel Geld und sehr viel Geld heute nicht mehr sehr groß. Ich habe das gleiche iPhone wie andere und trinke die Coca-Cola, die jeder kaufen kann.

Sie gelten als Familienmensch.

Ich werde jeden Morgen von meinen drei Jungs geweckt. Ich bin auch jeden Abend um sechs Uhr zuhause und spiele mit den Kindern. Das ist mir sehr wichtig.

Wenn die Kinder im Bett sind, gehen Sie danach noch einmal an den Rechner?

Ja. Dann erledige ich E-Mails.

Aber das erwarten Sie nicht von Ihren Mitarbeitern?

Nein. Ich glaube, dass jeder ungefähr fünf kreative Stunden am Tag hat. Shopify hätte gerne vier davon. Wann das passiert, ist egal. Wir haben auch fast keine festen Rollen in der Firma, das ganze ist beinahe selbst organisierend.

Viele Gründer sehen sich nicht als Manager, als CEO einer 3000-Mitarbeiter-Firma. Und Sie?

Mein Job ändert sich jedes Jahr, das liebe ich daran. Aber wenn mein Board mir morgen sagt, dass ich jemand anderem eine Chance geben sollte, dann wäre das auch okay. Es gibt eine Menge Jobs in der Firma, die mich sehr interessieren würden.

Sie würden tatsächlich unter einem anderen CEO arbeiten?

Wenn jemand besser ist, dann werde ich den einstellen. Es wird nur schwierig sein jemanden zu finden, der sich so kümmern würde wie ich.

Vor zwei Jahren geriet Ihre Firma in die Kritik, weil Sie mit der rechten US-Nachrichtenseite Breitbart zusammenarbeitete. Sie verteidigten das. Haben Sie richtig gehandelt?

Habe ich richtig gehandelt? Ja. Habe ich schlecht kommuniziert? Ja. Bin ich richtig damit umgegangen? Nein. Ich habe viel gelernt. Ich bin Programmierer, niemand, der ständig auf Konferenzen auftritt. Die Kritik war eine neue Erfahrung.

Sollte Shopify meine politischen Ideen auf seine Plattform projizieren? Meine Antwort ist klar: Nein. Das ist viel zu viel Macht für einen CEO
Tobi Lütke

Wie war das für Sie persönlich?

Ich habe Twitter, Facebook und so weiter erst einmal von meinem Telefon gelöscht. Auch für meine Familie war es schwierig. Plötzlich haben Leute in der Firma meiner Frau angerufen. Seit der Wahl von Donald Trump kochen die Emotionen schnell hoch. Deswegen wurde das ganz zu einer Sache aufgeblasen, die es gar nicht war.

Ist das so? Es geht ja in Ihrem Fall auch um die Frage, ob digitale Plattformen eine größere Verantwortung haben als sie es zugeben wollen – eine Debatte, die auch um Facebook oder Twitter geführt wird.

Ich glaube, die Leute sind von den aktuellen Regeln und Gesetzen frustriert. Jetzt fordert man von den Technologie- und Plattform-CEOs, die neuen Gesetzgeber zu werden und selbst Regeln zu erlassen. Da glaube ich nicht, dass das der richtige Weg ist. Wir haben übrigens nicht nur Breitbart als Kunden, sondern auch Planned Parenthood. Und die Frage ist: Sollte Shopify meine politischen Ideen auf seine Plattform projizieren? Meine Antwort ist klar: Nein. Das ist viel zu viel Macht für einen CEO. Das wäre eine Lösung auf der falschen Ebene.

Viele Tech-CEOs handeln anders, beugen sich dem öffentlichen Druck. Der rechte Verschwörungstheoretiker Alex Jones flog bei Apple, Facebook und Youtube raus.

Es ist natürlich viel einfacher, sich dem öffentlichen Druck zu beugen. Ich verstehe das. Aber es ist nicht der richtige Weg.

Mehr zum Thema

Neueste Artikel