Bei Thyssenkrupp nennen ihn manche den „guten Heinrich“. Vorstandschef Heinrich Hiesinger ist ein integrer und uneitler Mensch. Im Gespräch überzeugt der ehemalige Siemens-Manager durch Geradlinigkeit und unaufgeregte Logik. Nicht zuletzt durch sein persönliches Vorbild hat Hiesinger die verrottete und korrupte Kultur des Konzerns ins Positive gedreht. Mit einer jungen Garde von engagierten Mitarbeitern hat der Chef in einem bürokratischen Unternehmen mit byzantinischen Traditionen einen neuen Teamgeist entfacht. Das Traurige dabei ist nur: Das alles nutzt nichts. Thyssenkrupp kommt und kommt einfach nicht aus der Bredouille.
Schuld daran ist nicht nur der notorisch unprofitable Stahlbereich, der seit Jahren nicht seine Kapitalkosten verdient. Auch der Anlagenbau läuft seit langem nicht rund. Und selbst die Vorzeigesparte des Konzerns – Aufzüge – kommt nicht auf die Gewinnmargen der besten Wettbewerber. Die Bilanz von Thyssenkrupp liefert nach wie vor ein Bild des Jammers: Die Eigenkapitalquote liegt bei gerade einmal 7,4 Prozent, die Schulden bei 134 Prozent des Eigenkapitals. Hohe Pensionslasten schnüren Thyssenkrupp die Luft ab.
Hiesinger führt den Konzern seit nunmehr sechs Jahren. Das ist eine lange Zeit. Man kann ihm nicht vorwerfen, dass es keine Erfolge gäbe. Schließlich stand Thyssenkrupp bei seinem Amtsantritt kurz vor der Pleite. Aber die Erfolge reichen eben nicht, um den Konzern langfristig auf einen stetigen Erfolgspfad zu bringen.
Thyssenkrupp braucht einen strategischen Befreiungsschlag
Schuld daran ist die falsche Strategie Hiesingers. Der Vorstandschef setzt immer noch auf seine Vision eines integrierten Technologiekonzerns. Die disparaten Sparten des Konzerns sollen durch eine bessere Zusammenarbeit einen Mehrwert für alle schaffen. Als Beispiel dafür gilt die Kooperation zwischen dem Stahlbereich und der Komponentenfertigung für die Autoindustrie. Doch in Wahrheit brauchen die Technologiebereiche des Konzerns kein internes Stahl-Know-how, um neue Lösungen zu entwickeln. All das könnte man auch problemlos durch die gemeinsame Arbeit mit externen Partnern schaffen.
Seit seinem Start versucht Hiesinger die Performance des Konzerns durch viele kleine Schritte kontinuierlich zu verbessern. Dieses Vorgehen war und ist notwendig – aber sie ist eben nicht wirklich hinreichend. Thyssenkrupp braucht einen strategischen Befreiungsschlag – ähnlich wie es die angeschlagenen Energieriesen Eon und RWE vormachen. Am Ende wäre ein Konzern mit dem Kerngeschäft Aufzugstechnik mehr wert als das jetzige Konglomerat von verschiedenen Firmen unter dem Konzerndach.
Hiesinger ist ein Industriemanager durch und durch. Gefordert aber ist bei Thyssenkrupp in der jetzigen Lage die Fähigkeit, innovative finanzielle Lösungen für den Konzern zu entwickeln. Ein großer Wurf muss her – oder Thyssenkrupp dümpelt weiter dahin wie bisher.
Bernd Ziesemerist Capital-Kolumnist. Der Wirtschaftsjournalist war von 2002 bis 2010 Chefredakteur des Handelsblattes. Anschließend war er bis 2014 Geschäftsführer der Corporate-Publishing-Sparte des Verlags Hoffmann und Campe. Ziesemers Kolumne erscheint jeden Montag auf Capital.de. Hier können Sie ihm auf Twitter folgen.
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