Seit Tagen gibt es bei Thyssenkrupp nur noch ein Thema: den plötzlichen Abgang des Vorstandschefs Guido Kerkhoff. Dabei kommt der Rausschmiss an sich gar nicht überraschend, sondern nur die Art und Weise seiner Exekution. Brutaler kann sich ein Aufsichtsrat nicht von einem Manager trennen: Die offizielle Nachricht ereilte Kerkhoff per Telefon im Ausland, nicht einmal eine formelle Aufsichtsratssitzung wollte man in Essen abwarten, um die Eilentscheidung hinauszuposaunen. So etwas macht man eigentlich nur, wenn ein Vorstandschef goldene Löffel geklaut hat (wofür es keinerlei Anzeichen gibt), wenn Gefahr im Verzug ist (worüber nichts zu hören ist) oder sich die Oberaufseher düpiert fühlen und emotional werden (dafür spricht Einiges). Guter Stil sieht auf jeden Fall irgendwie anders aus.
Viel wichtiger als die Causa Kerkhoff aber ist die Frage: Wie steht es nach seinem Rausschmiss eigentlich um die Strategie von Thyssenkrupp? In der Mitteilung des Aufsichtsratspräsidiums von letzter Woche findet sich dazu nur zwei dürftige Sätze: „Die im Mai 2019 angekündigte und vom Aufsichtsrat einstimmig beschlossene Neuausrichtung des Konzerns wird konsequent fortgesetzt. Die drei Schwerpunkte „Performance First“, „flexibles Portfolio“ und „effiziente Organisation“ stehen dabei im Mittelpunkt.“ Auf Deutsch: Der Konzern soll mehr auf die Gewinne achten, nicht leistungsfähige Bereiche abstoßen und sich insgesamt einfacher organisieren. Das alles ist bei Thyssenkrupp tatsächlich überfällig. Aber eine Strategie ist das nicht.
Thyssenkrupp hat keine Zeit
Weder die beschlossene Abspaltung der profitablen Aufzugssparte (egal ob durch einen Börsengang oder einen Verkauf) noch eine abermalige Organisationsreform sichern allein ein Überleben des Konzerns. Künftig will sich Thyssenkrupp auf die Produktion und den Handel von Stahl konzentrieren – aber gerade für diesen künftigen Kernbereich fehlt eine zündende Idee, wie die ganze Veranstaltung nach dem Scheitern der geplanten Fusion mit Tata Steel allein auf die Beine kommen soll. Offenbar schwant das nun auch dem Aufsichtsrat, der sich allerdings mal wieder nur auf die personelle Seite der Sache kapriziert: Ende Mai musste bereits Stahl-Chef Andreas Goss gehen, dann rückte sein Finanzchef Premal Desai auf und nun setzt man auch ihm einen Über-Chef vor die Nase: Klaus Keysberg soll künftig im Gesamtvorstand für die Bereiche Handel und Stahl verantwortlich zeichnen. Eine einfache Organisation, die sich Thyssenkrupp doch gerade auf die Fahnen schreibt, sähe irgendwie anders aus.
Zunächst einmal übernimmt die bisherige Aufsichtsratschefin Martina Merz für maximal zwölf Monate, wie der Konzern betont, den Vorsitz des Vorstandes. Ein Nachfolger für Kerkhoff dürfte allerdings nur schwer zu finden sein, so dass daraus vielleicht doch eine längerfristige Sache werden könnte. Entscheidend aber ist: Thyssenkrupp kann nicht warten, bis ein neuer Vorstandschef an Bord ist, sondern muss das Strategiedefizit jetzt schnell angehen. Es geht um nicht weniger als das Überleben des Konzerns.
Bernd Ziesemer ist Capital-Kolumnist. Der Wirtschaftsjournalist war von 2002 bis 2010 Chefredakteur des Handelsblattes. Anschließend war er bis 2014 Geschäftsführer der Corporate-Publishing-Sparte des Verlags Hoffmann und Campe. Ziesemers Kolumne erscheint jeden Montag auf Capital.de. Hier können Sie ihm auf Twitter folgen .