Rote Fahnen sieht man besser: Der Titel eines umstrittenen Dokumentarfilms aus dem Jahr 1971, der zum geflügelten Wort geworden ist, stimmt noch immer, wie man in diesen Tagen bei Thyssenkrupp in Essen besichtigen kann. Die dramatische Auseinandersetzung um die Stahltochter des Konzerns beherrscht die Schlagzeilen im Ruhrgebiet. Und die Fernsehsender berichten auch deshalb so ausführlich über den Streit, weil es so viele schöne Bilder von den Protesten der Stahlarbeiter mit ihren roten IG-Metall-Fahnen gibt.
Nüchtern betrachtet kann man sagen: Der Traditionskonzern verspielt tatsächlich seine Zukunft, wenn sich keine nachhaltige Lösung für die Stahltochter findet. Wahr ist aber auch: Der Ausstieg allein, wenn er am Ende denn überhaupt zustande kommt, rettet den Gesamtkonzern keineswegs automatisch. Die übrigen Sparten müssen sehr viel besser wirtschaften als heute, wenn sie im Wettbewerb bestehen wollen.
Marinesparte und Metallhandel als Hoffnungsschimmer
Ein Blick in die letzten Quartalszahlen aus diesem Monat unterstreicht das Problem: Danach musste nicht nur der Stahlbereich unterm Strich Mittelabflüsse verkraften (minus 111 Mio. Euro), sondern auch die wichtige Automobilsparte (minus 25 Mio. Euro). Der neu gebildete und mit vielen Vorschusslorbeeren gestartete Bereich „Decarbon Technologies“ bewegte sich bei diesem operativen Cashflow an der Nulllinie. Freie Mittel erwirtschafteten nur die Marinesparte (vor allem wegen hoher Anzahlungen auf neue Aufträge) und der Metallhandel.
Die Marinesparte steht kurz vor dem Einstieg eines Investors, wenn man den Gerüchten der letzten Wochen glauben darf. Mit ihr kann der Konzern also künftig nur noch zum Teil rechnen. Bleibt der Handel (im Konzern unter dem Namen „Materials Services“ geführt). Er hat sich in der Vergangenheit als solide Bank für den Gesamtkonzern erwiesen. Allerdings fällt im Handel über die Quartale nur eine Gewinnmarge von gerade einmal 1 bis 2 Prozent an. Und die Konkurrenz wächst. Der wichtigste deutsche Wettbewerber Klöckner & Co. gilt als Vorreiter bei der Digitalisierung des Metallhandels – und erzielt dort tendenziell eine höhere Marge als Thyssenkrupp.
Dass auch die Verselbständigung von Geschäftseinheiten kein Selbstläufer ist, zeigt das Schicksal der Wasserstofftochter Nucera. Seit ihrem Börsengang ging es mit der Aktie des neuen Unternehmens steil nach unten. Zum Start am 7. Juli letzten Jahres lag die Bewertung noch bei 20 Euro, mittlerweile liegt sie nur noch bei rund 11 Euro – ein Verlust für die Aktionäre um fast die Hälfte. Die Träume von der „grünen“ Aktie, deren Produkte im Zeitalter der Umstellung von Gas auf Wasserstoff doch eigentlich gefragt sein sollten, sind auf den Boden realistischer Erwartungen gefallen: Günstige Langfristperspektiven helfen wenig, wenn kurzfristig zu wenige Aufträge hereinkommen.
Unter dem Strich zeigt Thyssenkrupp das Bild eines immer noch wenig fokussierten, viel zu komplexen Konzerns – auch ohne den Stahl. Alle Sparten litten in den letzten 20 Jahren unter dem ständigen Umbau des Konzerns, wechselnden Prioritäten, widersprüchlichen Strategien und knappen Investitionsmitteln. Und auch das, was man auf Englisch „Management Attention“ nennt, lag meistens beim Stahl. Denn rote Fahnen und rote Zahlen sieht man besser.