Der Jahreskalender 2014 ist gefüllt mit wichtigen Gedenktagen und so ist der 100. Geburtstag Jan Karskis weitgehend übersehen worden. Dabei ist Karskis Vermächtnis wichtiger denn je – ganz besonders für Syrien. Während sich der „Genf-II“ genannte Friedensprozess zu Syrien dahinschleppt – und die Leichenberge unterdessen immer höher, die Gräueltaten immer größer werden – verkörpert die Hingabe, mit der Karski ungeachtet der Trägheit von Regierungen und Öffentlichkeit während des Zweiten Weltkrieges versucht hat, die Welt für die Misere der polnischen Juden wachzurütteln, genau das, was Syrien so dringend benötigt.
1942 reiste der in Polen geborene Diplomat Karski nach Großbritannien, um über das zu berichten, was später Holocaust genannt wurde. Ein Jahr danach führte ihn seine Mission in die Vereinigten Staaten, wo er Präsident Franklin D. Roosevelt und andere Würdenträger über die Gräuel informierte, die er gesehen hatte. Man begegnete ihm in beiden Fällen mit Skepsis und Apathie. Tatsächlich wurden erst gegen Ende des Krieges Maßnahmen ergriffen, um das Gemetzel zu beenden.
Obwohl der Holocaust eine Kategorie der Verfolgung sui generis ist, kann man angesichts der Herangehensweise der internationalen Gemeinschaft an den Krieg in Syrien nicht umhin an Karski zu denken. Die Erwartungen an die Genfer Gespräche sind so gering, dass triviale Dinge – wie etwa die Tatsache, dass die Unterhändler von Präsident Baschar al-Assad und die Opposition im selben Raum sitzen (wenn auch nicht am selben Tisch) – als Erfolge gefeiert werden.
Das Leid in Syrien hat schockierende Ausmaße
Sogar die Vereinbarung, dass Frauen und Kinder die belagerte Stadt Homs (eine Hochburg der Assad-Gegner) verlassen dürfen, bleibt deutlich hinter den Vorstellungen der internationalen Vermittler zurück – und selbst diese Errungenschaft scheint in Frage zu stehen. Anstatt einem Uno-Hilfskonvoi die Zufahrt zu erlauben, um das Gebiet mit humanitärer Hilfe zu versorgen, hat die Regierung zugestimmt Frauen und Kinder gehen zu lassen - ohne festen Zeitplan. Männer dürfen erst gehen, nachdem ihr Name festgestellt wurde, was Angst vor Festnahmen auslöst. Während die mühseligen Beratungen über kleine Schritte, die eindeutig unzureichend sind, fortgesetzt werden, werden die Menschen in Syrien scharenweise vertrieben, verletzt, gefoltert und ermordet.
Das Leid in Syrien nimmt schockierende Ausmaße an. Obwohl Zahlen die von allen Seiten ausgehende Grausamkeit nicht zum Ausdruck bringen, müssen sie genannt werden: über 100.000 Tote, 2,3 Millionen registrierte Flüchtlinge und über vier Millionen intern Vertriebene (wobei einige Schätzungen von bis zu 6,5 Millionen ausgehen).
Die Zahlen waren schon vor einem Jahr schrecklich: 60.000 Tote, 700.000 Flüchtlinge und zwei Millionen intern Vertriebene. Wenn das Leid eine Schwelle erreichen könnte, ab der die Welt sagen würde: „Genug ist genug.“, wäre sie inzwischen sicher überschritten.
Die hässliche Wahrheit ist, dass die Reaktion der Welt auf diese Krise von geopolitischen Interessen geprägt ist, nicht von der Notwendigkeit dem entsetzlichen Leid der Menschen ein Ende zu setzen. Tatsächlich ist es kein Geheimnis, dass der Konflikt als Stellvertreter für größere Auseinandersetzungen dient – zwischen Saudi-Arabien und Iran, Saudi-Arabien und Katar, den USA und Iran, Russland und den USA, schiitischen und sunnitischen Muslimen sowie Gemäßigten und Extremisten – und dass seine Beilegung dieses Konflikts erhebliche Anstrengungen an allen diesen Fronten erfordern wird.
Der Westen schaut dem Morden tatenlos zu
Aus amerikanischer Perspektive ist Syrien strategisch nicht entscheidend. Die Regierung von Präsident Barack Obama richtet ihren Blick nach wie vor konzentriert nach innen, bestärkt durch eine Öffentlichkeit, die Auslandseinsätzen argwöhnisch gegenübersteht. Nur eine drastische Wende in dem Konflikt, wodurch dann Amerikas zentrale Interessen bedroht wären, würde zu einer direkten US-Intervention führen.
Schuldgefühle sind am Ende eine schwache Motivation für internationales Handeln. Sogar Großbritannien und Frankreich – die beiden einzigen Länder, die sich nicht scheuten, mit einem militärischen Vorgehen gegen das Assad-Regime zu drohen – haben kalte Füße bekommen, als sie mit der Möglichkeit konfrontiert wurden, im Alleingang handeln zu müssen.
Stattdessen reagiert die Welt auf Bilder unaussprechlicher Brutalität – Folter durch das Regime oder Hinrichtungen von Seiten der Opposition – mit fruchtloser Empörung. Die Flut von Erklärungen, halbherzigen Maßnahmen und schwerfälligen Initiativen hat kaum zur Verbesserung der Situation beigetragen – und sie in einigen Fällen nur noch verschlechtert.
Nehmen wir Obamas folgenlose Forderung, Assad müsse „abtreten“ und seine wiederholten Versprechen von Anfang 2012, die syrische Opposition mit nicht-tödlichen Hilfsgütern zu versorgen – Versprechen, die Ende letzten Jahres endlich eingelöst wurden und das auch nur vorübergehend. Diese Kluft zwischen Worten und Taten hat ein Vakuum hinterlassen; Saudi-Arabien, Katar und private Geber haben es anschließend gefüllt, indem sie extremistischen Elementen der Opposition Unterstützung zukommen ließen und ihre Macht auf Kosten der Gemäßigten gestärkt haben.
Obamas Versagen hat Assad wieder legitimiert
Doch das schändlichste Beispiel dieser politischen Lähmung war Obamas Erklärung aus dem Jahr 2012, dass chemische Waffen eine „rote Linie“ seien, deren Überschreiten die USA zum Eingreifen zwingen würde. Das endgültige Versagen, seiner Ankündigung Taten folgen zu lassen, hat Assad ermutigt und gewissermaßen wieder legitimiert.
Es bleibt abzuwarten, ob Genf II diesem Muster folgen wird. Der Preis der Gespräche war ohnehin schon hoch, da alle Seiten die Gewalt intensiviert haben, um ihre jeweiligen Positionen im Vorfeld der Verhandlungen zu stärken. Ganz zu schweigen von dem Fiasko im Zusammenhang mit der zurückgezogenen Einladung an den Iran, dessen Zustimmung für jedwede wirksame Lösung unentbehrlich sein wird.
Der schrittweise Charakter der Gespräche wird der Dringlichkeit der Lage keinesfalls gerecht. Angesichts der derzeitigen Konzentration auf Regimewechsel, Übergangsregierung und Verhandlungsdelegationen besteht die Gefahr, dass die verzweifelte humanitäre Lage übersehen wird.
An dieser Stelle kommt den Bürgern eine entscheidende Rolle zu. Doch ähnlich wie ihre Politiker agiert auch die Öffentlichkeit allenthalben zurückhaltend. Meinungsumfragen zeigen, dass es kaum öffentliche Unterstützung für eine Intervention gibt, obwohl das Bewusstsein für die Lage in Syrien praktisch flächendeckend vorhanden ist. Doch Händeringen wird nicht reichen. Gewöhnliche Menschen müssen Verantwortung für die Beendigung der Tragödie übernehmen und ihre Regierungen zum Handeln drängen.
Es ist über 70 Jahre her, dass Jan Karski der Welt seinen Bericht vor Augen geführt hat. In dieser Zeit haben wir die Vereinten Nationen geschaffen, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedet und endlos über die „Schutzverantwortung“ von Staaten für ihre Bürger diskutiert. Und dennoch: Wenn man sieht, wie sich die Tragödie in Syrien entwickelt, könnte man zu dem Schluss gelangen, dass sich nichts geändert hat. Wie oft werden wir „Nie wieder“ schwören müssen?
Aus dem Englischen von Sandra Pontow
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