Wolfgang Wiegard ist Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesfinanzministerium. Von März 2001 bis Februar 2011 gehörte er dem Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung an, dessen Vorsitzender er von April 2002 bis Februar 2005 war. Von Oktober 2009 bis Mai 2012 war Wiegard Mitglied im „Rat der Immobilienweisen“.
Im Hinblick auf die Reform des Steuersystems wird man die jetzige sowie die vergangene Legislaturperiode als verlorene Zeit betrachten müssen. Zwar wurden im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP vom Oktober 2009 noch grundlegende Steuerreformen und umfangreiche Steuersenkungen angekündigt. Übrig geblieben ist davon im Wesentlichen aber nur die Reduzierung des Umsatzsteuersatzes für Übernachtungsleistungen von 19 Prozent auf 7 Prozent. Im Koalitionsvertrag der Großen Koalition vom November 2013 werden grundlegende Steuerreformen schon gar nicht mehr angesprochen. Neben vielen unverbindlichen und wenig konkreten Einzelmaßnahmen findet sich viel Kleinkram; nennenswerte Vorhaben etwa im Bereich der Einkommensbesteuerung sucht man vergebens.
Es ist ja richtig: Aktuell hat die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte Priorität vor Steuerentlastungen. Aber daraus lässt sich kein steuerpolitscher Attentismus ableiten. Es gibt genügend sinnvolle und notwendige steuerpolitische Maßnahmen, die sich insgesamt aufkommensneutral ausgestalten lassen.
Baustelle Umsatzsteuer
Erhebliches Potenzial für Mehreinnahmen, die dann zu Gegenfinanzierung anderer Reformschritte verwendet werden könnten, gibt es bei der Umsatzsteuer. In einem Gutachten für das BMF hat der Verfasser dieses Beitrags zusammen mit Christoph Böhringer und dem RWI, Essen, die Aufkommens- und Wachstumseffekte einer vollständigen und teilweisen Abschaffung des ermäßigten Umsatzsteuersatzes berechnet. Bei einheitlicher Besteuerung aller Umsätze mit 19 Prozent ließen sich ein Mehraufkommen von rund 27 Mrd. Euro pro Jahr erzielen, bei Beibehaltung des ermäßigten Satzes von 7 Prozent nur auf Nahrungsmittel immerhin noch zusätzliche Steuereinnahmen von etwa 7,5 Mrd. Euro.
Im Gegenzug könnte man etwa den Normalsatz der Umsatzsteuer aufkommensneutral von gegenwärtig 19 Prozent bis auf 16,5 Prozent reduzieren. In diesem Fall würden unerwünschte Umverteilungseffekte für Konsumenten mit niedrigen Einkommen nur in sehr begrenzten Umfang auftreten. Dazu hat der Sachverständigenrat in seinem Jahresgutachten 2010/2011 umfangreiche Berechnungen vorgelegt. Ein Abbau oder die Beseitigung der Differenzen zwischen Normalsatz und ermäßigtem Umsatzsteuersatz wäre zugleich ein nachhaltiger Beitrag zur Steuervereinfachung.
Baustelle Unternehmensbesteuerung
Handlungsbedarf besteht nach wie vor bei der Unternehmensbesteuerung. Hier geht es einmal um die Bekämpfung aggressiver Formen der Steuerplanung von international agierenden Großunternehmen im Rahmen des BEPS-Projekts („base erosion and profit shifting“) der OECD. Zwar ist die nationale Steuerpolitik in diesem Bereich gut aufgestellt; es gilt aber die in anderen Ländern verbreiteten Regelungen zu so genannten Patent- oder Lizenzboxen einzuschränken. Das ist ein mühsames und zeitraubendes, aber im Hinblick auf die Sicherstellung des deutschen Steuersubstrats wichtiges Unterfangen. Auf nationaler Ebene steht eine bessere Integration von Abgeltungsteuer und Unternehmensbesteuerung an.
Durch die Unternehmensteuerreform 2008 ist es im Zusammenwirken mit der Abgeltungssteuer ab dem Jahr 2009 zu einer verstärkten Verletzung der Forderung nach Rechtsform- und Finanzierungsneutralität gekommen. Durchgerechnet bis zum Kapitalgeber werden die Erträge fremdfinanzierter Investitionen steuerlich günstiger behandelt als eigenfinanzierte Investitionen. Dies steht im krassen Widerspruch zum Ziel des Gesetzgebers, die Eigenkapitalquote insbesondere von mittelständischen deutschen Unternehmen zu stärken.
Auch wenn bislang alle Reformbemühungen gescheitert sind: In einem rationalen Unternehmensteuersystem ist für die Gewerbesteuer in der geltenden Form kein Platz. Sie sollte abgeschafft und aufkommensneutral durch ein kommunales Zuschlagssystem zur Einkommen- und Körperschaftsteuer ersetzt werden. Schließlich ließen sich durch eine verbesserte Forschungsförderung über Steuergutschriften für Forschungs- und Entwicklungsaufwendungen Wachstumsgewinne erzielen, die langfristig sogar eine Selbstfinanzierung ermöglichen würden (vgl. dazu Spengel/Wiegard: Ökonomische Effekte einer steuerlichen Forschungsförderung in Deutschland, 2011).
Baustelle Einkommensteuer
Im Bereich der Einkommensteuer gehört die Beseitigung oder Milderung der „kalten Progression“ zu den Dauerbrennern der steuerpolitischen Diskussion. Abgesehen von der verfassungsrechtlich vorgegebenen Anhebung des Grundfreibetrags hat es seit 2010 keine Tarifreform gegeben, die die Auswirkungen der kalten Progression gemildert hätte. Für die Bezieher mittlerer und höherer Einkommen hat dies zu beträchtlichen Verlusten ihres realen Nettoeinkommens geführt. Die Finanzminister von Bund und Ländern ebenso wie die Stadtkämmerer hingegen konnten sich über Mehreinnahmen in Milliardenhöhe freuen. Gerade deshalb wird es auch in dieser Legislaturperiode vermutlich wieder nicht zu einer Tarifreform der Einkommensteuer kommen, die die Wirkungen der kalten Progression neutralisiert.
Allein bei der Erbschaftsteuer dürfte noch in dieser Legislaturperiode mit Änderungen zu rechnen sein. Allerdings wird dies dem Gesetzgeber vom Verfassungsgericht aufgezwungen werden, indem es mit hoher Wahrscheinlichkeit die geltenden Regelungen zur Verschonung des Betriebsvermögens für grundgesetzwidrig erklären wird.
Der steuerpolitische Attentismus der letzten Jahre lässt sich zu Recht beklagen. Man kann das aber auch anders sehen. Gerade angesichts der in Wahlkampfzeiten präsentierten Vorschläge zur Wiedererhebung der Vermögensteuer oder zur Anhebung des Spitzensteuersatzes der Einkommensteuer ist es vielleicht doch am besten, wenn die Politik das Steuersystem für einige Zeit in Ruhe lässt.