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Interview „Scheitert die Währungsunion, gibt es einen Wirtschaftskrieg“

Stephan Schulmeister
Stephan Schulmeister
© dpa
Der Ökonom Stephan Schulmeister kritisiert den Neoliberalismus als realitätsfern und warnt vor einem Wirtschaftskrieg, sollte die Währungsunion scheitern. Um das zu verhindern, will er die Praktiken an den Finanzmärkten ändern

Stephan Schulmeister ist Ökonom und arbeitete 40 Jahre lang am Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO). Sein neues Buch Der Weg zur Prosperität erschien im Mai bei Ecowin.

In Ihrem neuen Buch vergleichen Sie den Neoliberalismus mit einer Religion. Was haben die beiden gemeinsam?

Dass es ein höheres Wesen gibt, dem sich die Menschen zu unterwerfen haben.

Was ist das für ein Wesen?

Der Markt.

Der entspricht Gott?

Ja, der Markt wird sozusagen in ein Subjekt verwandelt. Ich bin in den 50er-, 60er-Jahren aufgewachsen – das war auch eine Marktwirtschaft, aber das Verhältnis zum Markt war ein instrumentelles. Beispiel Gesundheitswesen: Da ist man damals zur Überzeugung gelangt, es besser sozialstaatlich zu organisieren. Diese Sprache der Journalisten, zu sagen „Die Märkte bestrafen Griechenland, tun dies oder jenes“, gibt dem Markt den Anschein, als wäre er ein Wesen, das etwas tut, wohingegen die Menschen eher zu Objekten werden.

Und Sie sagen, es müsste umgekehrt sein?

Sicher. Der Neoliberalismus ist die bedeutendste und geschichtsmächtigste Bewegung der Gegenaufklärung. Die wichtigste politische Bewegung der Aufklärung war aus meiner Sicht die Arbeiterbewegung, weil als Haltung dominierte: Das Schicksal des Menschen ist der Mensch. Die Gegenposition ist: Der Mensch muss sich den Märkten anpassen. Es wurde eine gedankliche Konstruktion geschaffen, die dem Handeln der Politik seine Legitimationsgrundlage entziehen soll. Der Begriff des Neoliberalismus wird leider sehr oft unscharf als Schimpfwort verwendet. Zwischen den Annahmen der österreichischen Schule wie Hayek und der Gleichgewichtsökonomen in Chicago wie Friedman liegen buchstäblich Welten. Dazu kommt dann noch der Ordoliberalismus.

Gegen was richtet sich Ihre Kritik?

Gegen die Grundannahme: Der Mensch ist nur ein Individuum, nur ein rationales Wesen, nur ein egoistisches Wesen. Das sind die fundamentalen Annahmen, die nötig sind, damit man eine mathematische Gleichgewichtstheorie konstruieren kann. Während der Mitstreiter Hayek genau gegenteilige Annahmen hat wie die Chicago Boys: Das Wissen der Menschen ist vollkommen beschränkt, kein Einzelner hat den Überblick über ökonomische Prozesse. Und Hayek kommt, das ist die große Paradoxie, zu den gleichen Ergebnissen wie die Chicago Boys.

Und ohne Hayek wiederum wäre der Neoliberalismus heute nicht da, wo er ist?

Hayek ist der großartigste intellektuelle Krieger, den es im 20. Jahrhundert gegeben hat. Er hatte eine klare strategische Vorstellung. Erst hat er einen Katechismus geschrieben, das ist „Der Weg zur Knechtschaft“, 1944. Dann hat er die Mont Pèlerin Society gegründet. Die ganze Welt war damals keynesianisch. Aber Hayek hatte einen langen Atem und sagte, das kann zwei Generationen dauern, aber wir werden es schaffen, wenn wir Theorien produzieren und sie ausspielen, wenn der Keynesianismus in Schwierigkeiten gerät. Zum Beispiel der Aufsatz von Milton Friedman über destabilisierende Finanzspekulation, die könne es logisch gar nicht geben. Das beruht auf einem Zirkelschluss, der aber nicht erkennbar war. Es gab damals keine freien Finanzmärkte und man konnte leicht sagen, die werden ohnehin zu Gleichgewicht streben. Bis hin zur Theorie der natürlichen Arbeitslosigkeit 1967. Auf dieser Basis hat die Europäische Kommission gesagt, dass in Spanien 2013 25 Prozent der Menschen „natürlich arbeitslos“ waren.

Weil die Löhne zu hoch waren, nach dieser Theorie?

Die waren gar nicht zu hoch. Aufgrund des Zirkelschlusses: Wenn mein Denksystem unterstellt, dass das durch die Reallöhne bestimmt wird, dann schließe ich zurück, dass die Löhne zu hoch gewesen sein müssen. Es könnte aber auch eine ganz andere Theorie richtig sein. Was mein Buch durchzieht, ist die Paradoxie, dass man innerhalb eines Denksystems dieses Denksystem selbst nicht als Krisenursache erkennen kann.

Die Finanzkrise 2008 war für die Eliten weltweit ein schwerer Schock. Man hatte immer gepredigt, dass die Märkte liberalisiert werden müssten, insbesondere die Finanzmärkte. Und dann passiert es, dass auf den freiesten Märkten so eine schlimme Krise ihren Ausgang nimmt. Man konnte sich fragen, ob die Theorien selbst mitschuldig an der Krise waren – und das wollte man halt nicht. Insofern war der ideale Schuldige Griechenland, weil der Staat in einer schlechten Verfassung ist, weil Korruption, Klientelismus et cetera dominieren, alles richtig. Nur die Schlussfolgerung war falsch, Griechenland hatte keinen nennenswerten Beitrag zu der Krise geleistet. Das Land wurde zum Sündenbock.

Schon John Maynard Keynes schlug vor, dass Staaten mit starken Überschüssen diese wieder verteilen sollten.

Ja, das war die Idee der Clearing-Union. Das Defizit des Einen, so der Gedanke von Keynes, ist immer der Überschuss des Anderen. Der übliche Gedanke ist, dass der Defizitstaat seine Import-Nachfrage senken muss, aber damit senkt er auch die Exporte des Überschusslandes. Sie können dasselbe erreichen, wenn das Überschussland seine Nachfrage erhöht. Das setzt aber eine übernationalstaatliche Koordinierungsinstanz voraus, diese Clearing-Union, und genau die gibt es im Neoliberalismus nicht.

Sie entwickeln Vorschläge, wie man zukünftige Krisen verhindern könnte. Welche sind das?

Erstens glaube ich, dass es wieder zu einer Krise kommen wird. Wann, das kann man nie sagen. In einem System, das systematisch unnötige Unsicherheiten produziert, da wären wir wieder bei Keynes. Seine These war, dass man Finanzmärkte regulieren müsste. In den 50er- und 60er-Jahren ist man dieser These gefolgt. Aber ich gehe in meinem Buch noch weiter und schaue nach den tieferen Gründen für die Politik in Deutschland. Der wirkliche Grund sind die unterschiedlichen Navigationskarten, die unterschiedlichen Theorien, die verwendet werden. Wir müssen einen theoretischen Rahmen entwickeln, der den Menschen entspricht. Da ist der größte Ökonom für mich nach wie vor Adam Smith. Der ist einfach großartig, weil er die Polaritäten des Menschen, dass wir sowohl Egoisten, als auch Anteil nehmend sind, dass wir konkurrieren, aber auch kooperieren. Das wesentlich Polare des Menschen muss Raum haben in der Theorie. Das ist für mich der fundamentale Fehler des Neoliberalismus, dass er sagt, der Mensch ist nur rational, nur individuell, nur egoistisch. Also wie eine neue Theorie aussehen müsste. Und daraus abgeleitet: Was machen wir jetzt?

Und zwar?

Von den großen Herausforderungen ausgehen und schrittweise die Probleme mildern. Beispielsweise die Instabilität der Finanzmärkte. In 30 Jahren Feldforschung bin ich zu dem Ergebnis gekommen, dass das Phänomen der Bullen- und Bärenmärkte kein Ausrutscher, sondern die Essenz dieser Märkte ist. Jeder Trader denkt in diesen Erwartungsregimen. Ein System nach dem Grundsatz „Lassen wir unser Geld arbeiten“. Solche Systeme haben sich in der Wirtschaftsgeschichte zwingend selbst zerstört. Wir sind in der Endphase dieser Selbstzerstörung.

Wenn die Währungsunion scheitert, bekommen wir einen Wirtschaftskrieg, der über nationale Wechselkurse geführt würde, den Deutschland verlieren muss. Das ist das negativste Szenario, aber ich versuche im Buch Wege zu zeigen, wie wir das verhindern könnten. Das hat sicher damit zu tun, dass Unternehmertum besser gestellt werden muss als die Finanzwelt. Anders als in den letzten 30 Jahren. Das geht nur, wenn wir versuchen bestimmte Praktiken auf den Finanzmärkten unmöglich machen, ich bin aber gegen Verbote. Etwa wenn man den Fließhandel in Mikrosekunden ersetzt durch elektronische Auktionen alle drei Stunden. In den Trading Rooms könnte man alle Bildschirme entsorgen. Besonders die Trader müssten sich wieder so verhalten, wie es das neoliberale Lehrbuch vorsieht. Sich fragen, was ist der fundamentale Wert einer Aktie? Dadurch würden 95 bis 98 Prozent der Transaktionen verschwinden, weil die durch das Hochfrequenztrading generiert sind. Ein anderes Beispiel: Ich behaupte, ganz einfach, weil ich ein Markwirtschaftler bin, dass sie den Klimawandel durch Preissignale bekämpfen können.

Wenn der Neoliberalismus mit einer Religion vergleichbar ist, gibt es auch eine Erlösung?

Naja, Immanuel Kant: Ausgang des Menschen aus der selbstverschuldeten Marktreligiosität. Es gibt kein Erlösungsereignis, sondern das wird hart erarbeitet werden müssen. Emanzipation ist Knochenarbeit.

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