Der letzte US-Präsident, der mit den EU-Staats- und Regierungschefs das Gipfel-Dinner teilen durfte, war Barack Obama. Elf Jahre später ist es nun Joe Biden, der zu der Runde hinzustößt– wenn auch nur im Video-Call. Trotzdem ist es ein starkes Signal, wie wichtig die Beziehung beiden Seiten ist. Bidens Außenminister Antony Blinken verbringt bereits vier Tage in Brüssel. Die Zeichen stehen gut: Beide Seiten wollen das transatlantische Verhältnis neu aufbauen. Der vielfach beschworene "Neustart" ist da.
Biden wollte mit der EU über die Beziehungen der Europäer zu China und Russland sprechen. Das Thema ist heikel und birgt viel Zündstoff. Für die Europäer war hingegen die Versorgung mit Impfstoff das eigentlich brennende Gipfel-Thema. Eine Gelegenheit also, den US-Exportstoff für Corona-Impfstoffe anzusprechen, den noch Bidens Vorgänger Donald Trump im Herbst 2020 verhängt hat. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wollte über eine bessere Kooperation bei der Impfstoffversorgung reden. Biden scheint dazu bereit. Dennoch ist sich hier noch jeder selbst der Nächste.
Es sei höchste Zeit, dass beide Seiten des Atlantiks wieder als Gemeinschaft zusammenkämen und ein neues Kapitel aufschlagen, betonte von der Leyen vor dem Gipfel bei einer Transatlantik-Konferenz der amerikanischen Handelskammern. Schließlich seien die transatlantischen Beziehungen „das pochende Herz der globalen Zusammenarbeit“. Man spreche die gleiche Sprache, was eine faire Kooperation, das freie Unternehmertum und eine wissenschaftsbasierte Politik angehe – dies alles auf der Grundlage gemeinsamer Werte.
Das sind starke Worte. Die EU ist der weltweit größte Binnenmarkt und besitzt so beträchtliche Regulierungsmacht. Gesellen sich die USA dazu, so auch die Botschaft der transatlantischen Handelskonferenz, sei man gemeinsam unschlagbar – insbesondere gegenüber einen immer stärker werdenden Rivalen wie China. Mit einem gemeinsamen Vorgehen sei viel mehr zu erreichen, als wenn die USA und die EU gegeneinander arbeiteten. Von der Leyen unterstrich, seit Bidens Amtsantritt im Januar werde sich schon intensiv ausgetauscht.
Gewaltig verflochten
Dass keine zwei Wirtschaftsräume in dieser Welt so eng miteinander verflochten sind, macht auch die jüngste Studie „The Transatlantic Economy 2020“ deutlich, die für die Handelskammern erstellt wurde. Daniel Hamilton von der Johns Hopkins University and Joseph Quinlan vom Woodrow Wilson International Center zeigen darin, wie gut Amerikaner auf dem EU-Markt von 450 Millionen Verbrauchern Geschäfte machen, und Europäer in den USA. Wichtigster Gradmesser: 64 Prozent aller Auslandsinvestitionen (FDI) in den USA stammen zuletzt aus EU-Staaten, umgekehrt flossen 60 Prozent der amerikanischen FDI nach Europa (2019), fast viermal so viel wie in den Asien-Pazifik-Raum.
Wie die Studie zeigt, zogen wegen Trumps Steuerreform US-Firmen 2019 zwar 47 Mrd. Dollar aus Europa ab, es wurden zugleich aber 56 Mrd. Dollar in die EU investiert. Bis September 2020 waren es wiederum 55 Mrd. Dollar, während nur 8 Mrd. Dollar nach Asien flossen, davon 1,2 Mrd. nach China und 2,1 Mrd. in die BRIC-Staaten.
Zusammen stellen die Blöcke 27 Prozent der globalen Exporte und 32 Prozent aller Importe. In Europa angesiedelte US-Firmen verkaufen dort laut der Studie doppelt so viel wie US-Unternehmen in Asien. Wohl sei in Europa das Einkommen in den ersten neun Monaten um 15 Prozent auf etwa 254 Mrd. Dollar gefallen, in China aber seien in dem Zeitraum nur 7,1 Mrd. Dollar umgesetzt worden.
Die Autoren warnen davor, die Bedeutung der Partnerschaft allein vom Warenaustausch abzuleiten. So sei nach Eurostat-Zahlen China inzwischen der wichtigste Handelspartner der EU. Das sei aber nur die halbe Wahrheit. Tatsächlich sei die Autobahn zwischen der EU und China vor allem für Waren und nur zweispurig, und der Bau einer dritten Spur – das jüngst geschlossene Investitionsabkommen – „problembeladen“. Die transatlantische Autobahn hingegen verbinde die wichtigsten Wirtschaftspartner auf zwölf Spuren für Waren und Dienstleistungen, digitale Services sowie Forschung und Entwicklung. „Wir hatten einige Unfälle auf dieser Autobahn in den vergangenen Jahren“, sagte Hamilton. „Aber jetzt können wir wieder in die Spur kommen.“
Bei einigen Themen bahnt sich ein Neustart an. Das sind die wichtigsten:
In diesen Bereichen kann EU und USA ein Neustart gelingen
Seit der Videoschalte führender EU-Länder mit Chinas Regierungsspitze Ende 2020 (im Bild) hat sich der Ton verschärft. Europa vollzieht im Verhältnis zu Peking einen Drahtseilakt zwischen Konfrontation und Wirtschaftsinteressen. Die USA wollen ihre harte Linie gegen Peking weiterfahren und erwarten europäische Solidarität gegen unlautere Handelspraktiken und andere Auswüchse chinesischer Marktmacht. Derzeit scheint die EU ihre Reihen zu schließen und näher an die USA heranzurücken. Man will einen Neustart des „strategischen Dialogs“ über China vereinbaren. Die Regierung in Washington betrachtet das Verhältnis zu Peking als zentrale geopolitische Herausforderung der nächsten Jahre und will einen Bund der Demokratien schmieden. Biden betont jedoch, er wolle Verbündeten keine „Wir-oder-die“-Logik aufzwingen. Man wisse um "komplexe Beziehungen" mit Peking.
Als Zeichen des Neustarts im Handel haben sich von der Leyen und Biden bereits darauf geeinigt, die gegenseitig verhängten Strafzölle im Airbus-Boeing-Streit vier Monate lang auszusetzen – und eine dauerhafte Lösung zu suchen. Es geht dabei um wettbewerbsverzerrende staatliche Beihilfen für die Flugzeugbauer (oben im Bild in Vancouver). Ungewiss ist dagegen, was mit den Strafzöllen auf Stahl und Aluminium passiert. Sicher ist, die Partnerblöcke sind die jeweils größten Exportmärkte: Die USA importierten 2020 EU-Waren im Wert von 466 Mrd. Dollar, die EU führte US-Waren von 291 Mrd. Dollar (minus 13,6 Prozent) ein. Rund 22 Prozent der EU-Exporte gehen in die USA, etwa elf Prozent nach China.
Einfallstore für die aggressive chinesische Wirtschaftspolitik sieht Washington in Technologien wie 5G und der Infrastruktur, wie Außenminister Blinken sagte. Washington wolle hier mit seinen Partnern daran arbeiten, Lücken zu schließen, die China ausnutzen könne, um Druck auszuüben – von der Informationstechnologie über die Chipproduktion bis hin zur Batteriefertigung. Von der Leyen sieht positive Vorzeichen in Washington für eine Kooperation bei digitalen Themen: Ein Trade- und Technology-Council könnte Standards und Normen absprechen. Gemeinsam könne man ein weltweit gültiges Regelbuch für die Digitalwirtschaft schaffen: vom Datenschutz und Privatsphäre bis zur Sicherheit technischer Infrastruktur. Auch die Studienautoren plädieren dafür, mit gemeinsamen Standards technologische Weichen zu stellen.
Wie die Studie der Handelskammern betont, sind die USA und Europa die wichtigsten Partner in digitalen Dienstleistungen. In der Konnektivität unübertroffen, generieren sie 75 Prozent der globalen digitalen Inhalte. 2019 exportierten die USA digitale Dienstleistungen im Wert von 245 Mrd. Dollar nach Europa, umgekehrt waren es 133 Mrd. Dollar. Zugleich wollen sowohl Brüssel wie nun auch Washington den US-Hightech-Konzernen Zügel anlegen. Kommissionsvizepräsidentin Vestager (Bild oben) hat im Dezember den Digital Services Act und den Digital Market Act auf den Weg gebracht. Beide sollen helfen, die immense und weitgehend unkontrollierte Macht der großen Internetkonzerne demokratisch einzuhegen. Es geht um Risikokontrolle und Verantwortung für Inhalte sowie um Transparenz. Von der Leyen äußerte sich zuversichtlich, dass selbst eine geplante Digitalsteuer nun einvernehmlich mit Washington durchsetzbar sei.
In Handelsfragen hält die Biden-Regierung an der harten Haltung gegenüber China fest. Doch engagiert Washington sich wieder multilateral und hat die Ernennung der Nigerianerin Ogozi Iweala an der Spitze der Welthandelsorganisation mitgetragen – ein Zeichen für Reformbereitschaft. Die WTO war wegen Trumps Opposition lange blockiert, wiewohl sie dringender Weiterentwicklung bedarf. Auch der von Brüssel vorgeschlagene Rat für Handel und Technologie könnte auf Ministerebene den Rahmen für einen abgestimmten Dialog zur WTO bieten. Und selbst in der Industrieländer-Organisation OECD stehen die Zeichen gut, die geplante Reform globaler Unternehmenssteuern voranzubringen. Bidens Finanzministerin Janet Yellen hob dort die Blockade auf.
Die erste Auslandsreise des US-Klimabeauftragten John Kerry führte nach Brüssel zu EU-Vizekomissionspräsident Timmermanns. Biden hat sich im Februar mit Kanada darauf geeinigt, bis 2050 klimaneutral zu werden. Damit zieht sein Land gleich mit der EU. Von der Leyen hofft, sich mit Washington auf eine CO2-Bepreisung zu verständigen. Wenn EU und USA mit neuen Standards in Vorleistung gingen, würden andere folgen. Sinnvoll wäre das auch für die Klimaschutzmauer, die die EU um den Kontinent ziehen will. Handelspartner, die CO2-Grenzabgaben als protektionistisch motivierte Maßnahme bewerten, könnten andernfalls eine Klage vor der WTO erheben und Vergeltungsschritte einleiten. Biden hatte einen ähnlichen Mechanismus selbst im Wahlkampf versprochen. Wissenschaftler raten der EU, mit anderen Wirtschaftsblöcken einen Klimaklub zu bilden, eine Art Klimafreihandelszone. Die USA waren 2019 für 13 Prozent der globalen CO2-Emissionen verantwortlich, hinter China (30 Prozent) und vor der EU (9 Prozent).