Was haben Sie mit der Siemensstadt vor?
CEDRIK NEIKE: Wir erneuern hier ein 100 Jahre altes Industriegebiet und zeigen, wie das geht. Auf 76 Hektar wird in den nächsten Jahren eine Modellstadt entstehen, die alles bietet, was technisch geht: klimaneutral, Schwammstadt, intelligente Gebäude, Energie- und Verkehrskonzepte. Es wird zwei Industriehubs geben mit 20.000 Arbeitsplätzen, Wohnungen für 7000 Menschen, ein Forschungscampus, Schulen, Hochhäuser und Einkaufsmeile. Wir wollen damit eine Blaupause für andere Städte sein, zeigen, wie man gewachsene Städte weiterentwickeln und zukunftsfest machen kann, wie man Industrietransformation weltweit erfolgreich gestalten kann.
Wäre es nicht viel einfacher gewesen, so ein Projekt auf der grünen Wiese zu bauen?
Wir haben das diskutiert. Die Optionen waren klar, entweder Siemens geht weg, oder wir geben dem Viertel noch mal einen richtigen Kick. Daraus ist dieses Projekt entstanden. Für mich ist das auch persönlich ein besonderer Ort. Als 18-Jähriger habe ich hier eine Ausbildung zum Industriekaufmann gemacht, im Werk 62. Jeden Tag bin ich mit dem Rad hin geradelt. Als ich dann später, nach 16 Jahren USA, wieder zurück zu Siemens kam, hatte sich hier Null entwickelt. Das sah alles noch genauso aus. Die Zeit war aber eine andere. Für mich ist das ein Herzensprojekt, bei dem uns die Stadt Berlin von Anfang an sehr unterstützt hat.
Am Dienstag ist Grundsteinlegung mit dem Bundeskanzler und dem Regierenden Bürgermeister von Berlin. Ein großes Richtfest, sechs Jahre nachdem sich Siemens und Berlin auf das Projekt geeinigt hatten. Warum hat das so lange gedauert?
Wir mussten einige Hürden nehmen, viele Fabrikhallen und Gebäude sind Industriedenkmäler, da gibt es viele Bauauflagen und die Genehmigungen dauern schon ein bisschen. Aber es ist auch viel passiert. Digital existiert die Siemensstadt von morgen bereits. Wir haben mit Millionen Daten einen ganzheitlichen digitalen Zwilling entworfen und damit vorgebaut, was wir nun real nachbauen werden. Virtuell kann ich mich in Siemensstadt Square, so haben wir und die Bürger den Zukunftsort genannt, bewegen und auch schon in meinem neuen Büro arbeiten.
Und wie sieht die Zukunft dort aus?
Autos sind nicht zu sehen, aus alten Hallen sind lichte offene Räume geworden, es gibt Platz für Start-ups, eine eigene Schule, einen Campus, viel Grün. Aber eben auch eine moderne Produktionsfabrik von Siemens, in der wir Zukunftstechniken bauen und erproben. Aber all die schicken neuen Thinktanks und Bürogebäude sind nur der sichtbare Teil. Innovativ kann Siemensstadt Square auch unterirdisch. Mit dem Berliner Abwasser heizen oder kühlen wir mit Hilfe eines Wärmetauschers das Quartier. Wir bauen ein eigenes Nahwärmenetz, genauso Glasfaser und ein Wasserwerk. All das ist notwendig, weil wir keine Wärmedämmung an den Gebäuden einsetzen können. Der Denkmalschutz erlaubt das nicht.
Die meisten Bauherren klagen über langsame Behörden und Genehmigungsprozesse. Sie auch?
Generell leiden wir in Deutschland unter zu viel Bürokratie und Regulierung. Das trifft auch Siemens. Aber bei diesem Projekt sind wir anders vorgegangen. So sind wir nicht mit einem fertigen Masterplan zu den Behörden marschiert, sondern haben erst mal mit der Stadt verhandelt. Wir haben in einem 40-Punkte-Plan aufgeschlüsselt, was wir brauchen und wie es gemacht werden kann. Und dann haben wir von Anfang an auf Kooperation mit den Behörden gesetzt. So gibt es sechs Arbeitsgruppen mit den Behördenvertretern, die ständig zusammenarbeiten. Und es funktioniert. Bis 2035 soll alles hier in Siemensstadt Square fertig sein, aber wir fangen heute schon an und bereits Mitte 2025 werden die ersten Bewohner, Besucher und Partner das neue Quartier erleben können.
Viele Bauprojekte in Berlin scheitern auch an den Bewohnern, die sich wehren gegen noch mehr Gentrifizierung.
Wir haben die Anwohner von Anfang an eingebunden, ihnen erklärt, was wir machen. Wir wollen, dass hier eine bunte, gemischte Stadt entsteht, kein Luxusareal, das sich nur wenige leisten können. Spandau ist ein Bezirk mit relativ niedrigen Mieten, da ist es wichtig, dass ein Drittel der Wohnungen Sozialwohnungen sein werden.
Wie viel Geld steckt Siemens in das Stadtviertel?
Wir investieren 750 Millionen als Anschubfinanzierung, das Gesamtprojektvolumen zur Umsetzung wird sich bis 2035 auf bis zu viereinhalb Milliarden Euro belaufen. Die Investoren drängeln sich, es gab schon Interessenten, die die ganze Siemensstadt kaufen wollten. Doch wir verkaufen nicht.
Siemensstadt Square ist vor allem eine Schaubühne für Siemens.
Wir wollen mit diesem Stadtteil unseren ganzheitlichen digitalen Zwilling vorführen. Er verbindet intelligente Gebäudetechniken, Infrastruktur, Energiekonzepte und digitale Fabriken. Das Metaverse, 3D-Druck, künstliche Intelligenz, Datenanalyse. All das gehört bereits heute zu unseren wachsenden Geschäftsfeldern. Daran wollen wir hier in Berlin weiterarbeiten. Wir sind schon jetzt das Referenzmodell für viele andere Städte, die vor ähnlichen Problemen stehen. 50 Delegationen aus aller Welt haben die Siemensstadt im vergangenen Jahr besucht.
Siemensstadt Square ist ein Beweis für Deutschlands Innovationskraft. Wir unterschätzen uns extrem: Unsere technologische Stärke, unsere Hidden Champions, unseren Erfindungsreichtum. Weltweit gibt es zwei deutsche Worte, die jeder kennt, Energiewende und Industrie 4.0. In der Siemensstadt Square werden wir beides zeigen. Und wer weiß: vielleicht wird Siemensstadt Square das dritte Wort, das jeder in der Welt kennt.