Schleichend überkommt es immer mehr Menschen: Sie fühlen, dass irgendetwas an der Sache mit den vielen neuen – häufig vermeintlich kostenfreien – Angeboten und Anwendungen im Internet etwas faul sein könnte. Sie merken, dass sie von allen Seiten durchleuchtet werden – dass die Sicherheitsbehörden und Kreditwürdigkeitsabschätzer uns offenbar auf Schritt und Tritt verfolgen. Jeder Winkel unseres Lebens wird schon heute durch digitale Technik ausgeleuchtet. Wir alle helfen fleißig mit an der Komplettkontrolle unserer Persönlichkeit. Nichts darf mehr dem Zufall überlassen werden, schließlich wollen wir alle produktiv, reich, attraktiv und sicher sein. Wir lassen uns von Staat und Wirtschaft praktisch durchleuchten, ohne dabei auf eine effektive Kontrolle und Regulierung zu bestehen. So werden wir entmündigt und ausgenommen. Aus Bürgern und Verbrauchern werden Objekte und Produkte – ohne eigene Rechte.
Das Buch „Finger weg von meinen Daten“ ist eine Streitschrift, die aufrütteln und politisieren soll. In Zeiten der digitalen Revolution kommt es auf die Menschen an, die in die letzte große Schlacht um ihre Freiheit ziehen, wenn sie Menschenwürde und Selbstbestimmung im digitalen Zeitalter erhalten wollen.
Noch vor einigen Jahren war es eine gefühlte Seltenheit, dass von uns persönliche Informationen festgehalten wurden. Heute geschieht es praktisch sekündlich und zwar millionenfach. Waren im Jahr 2000 gerade einmal 400 Millionen Menschen weltweit im Internet, sind es 2014 bereits über 2,7 Milliarden. Fast die Hälfte davon geht mittlerweile mit mobilen Endgeräten online.
Gut gehütete Algorithmen
Der weltweite Datenverkehr umfasst jeden Monat eine Masse von etwa 70 Millionen Terrabyte. Abgesehen von einigen Geheimdiensten oder Meldeämtern hatte sich vor der Digitalisierung unseres Alltagslebens niemand die Mühe machen wollen, umständliche Register mit scheinbar unendlichen und vermeintlich überflüssigen Informationen über unser Leben zu pflegen. Durch die rasante technologische Entwicklung, vor allem von Speicher- und Netzkapazitäten, hat scheinbar über Nacht die komplette Digitalisierung unserer bis dato ziemlich analogen Lebenswelt stattgefunden. Die vielfach von jungen Informatikern im Silicon Valley entwickelte Technik vom Browser über das Online-Spiel bis zum Smartphone konnte nur von sehr wenigen nachvollzogen werden. Es reichte, dass die Digitalisierung da war, und sie machte unser Leben vermeintlich so viel einfacher und schöner.
Erst mit dem Aufdecken des NSA-Skandals im Sommer 2013 wird eine Entwicklung sichtbar, die sich über die Jahre verselbstständigt hat und nun völlig unkontrollierbar wirkt. Je ausgeklügelter die Programme wurden, desto weniger konnten selbst ihre Erfinder die entwickelte Technik noch durchschauen. Die Algorithmen von Suchmaschinen und Kreditwürdigkeitsauskünften sind heute so gut gehütete Geheimnisse wie die Zugangscodes von Banktresoren.
Menschen kontra Maschinen
Selbst das Schicksal des globalen Finanzmarktes - und damit von uns allen - liegt in der Hand einiger weniger, die die Entscheidungsregeln intelligenter Algorithmen noch durchschauen können, durch die der automatisierte Handel von Großinvestoren und Banken zum Teil in Hochfrequenz organisiert ist. Juristen und Politiker rätseln schon seit Jahren, wie sie eigentlich noch die Einhaltung demokratischer Entscheidungen und rechtstaatlicher Grundsätze garantieren sollen. Allem voran zeigt sich dies an einer einzigen Grundregel, die die schlichte Datenverarbeitung bis heute betrifft: am Recht auf Datenschutz. Es wird zum Schlachtfeld der Superlative zwischen den Menschen, einer regulierten Marktwirtschaft und der Demokratie auf der einen und den Maschinen, global agierenden Konzernen und Regierungen auf der anderen Seite.
Dahinter stehen zwei Entwicklungen, die eng miteinander verwoben sind: Die Globalisierung als gesellschaftlicher Umbruch und die Digitalisierung als technischer Katalysator dieses Umbruchs. Die Globalisierung wird ausgelöst durch den Fall der Grenzen, die systematische Öffnung der Märkte und die ganz reale Vernetzung der Welt. Ihr zentraler Antrieb der Freiheit sorgt nicht nur für den Verlust gewohnter Verhältnisse und Sicherheiten, sondern auch für einen historischen Aufbruch von Menschen und ganzen Bevölkerungen in eine selbstbestimmte Zukunft. Der Fall des eisernen Vorhangs und die ganz aktuellen Auseinandersetzungen in Osteuropa und in den arabischen Ländern zeigen dies deutlich.
Umgehung bestehender Rechtsordnungen und Standards
Die Digitalisierung entsteht durch die Erfindung von Hochleistungsrechnern, Datenerhebungsschnittstellen und die kommunikationstechnische Vernetzung der Welt. Mit ihr haben die individuellen wie kollektiven Möglichkeiten der Menschen rasant zugenommen, wie die Demokratisierungsbewegungen von heute ebenso zeigen, wie die weitgehenden neuen Wege der Selbstorganisation im privaten wie beruflichen Umfeld.
Das erste der beiden Phänomene sorgt für einen bereits seit vielen Jahren durch die globalisierungskritische Bewegung benannten Trend: Die Umgehung bestehender Rechtsordnungen und Standards. Zunächst wird dies im Bereich der Sozial- und Umweltstandards sowie der Steuern sichtbar, nämlich da, wo global agierende Konzerne, Banken und Investoren durch Standortpolitik und einer professionell betriebenen Suche nach Schlupflöchern jegliche Regulierung in Frage stellen. Die Globalisierung stellt uns vor die Herausforderung, die stille Erosion unserer Rechtssysteme durch Wettbewerbsdruck und die faktische Umgehung souveräner Entscheidungen zu verhindern.
Wenn wir Europäer auf die schlechten Erfahrungen mit der Wirkung und Wirksamkeit von Abschottung, Protektionismus und Kleinstaaterei blicken, bleibt dabei für uns nur noch die Flucht nach vorn. Das bedeutet, dass gleichwertige Standards auf europäischer und internationaler Ebene gesetzt werden müssen - mit ungewissem Ausgang. Ob es gelingen wird, einen weitgehend deregulierten Staat wie die USA oder repressiv regierte Staaten wie China von gleichwertigen Standards zum Schutze unserer Rechtsprinzipien zu überzeugen, ist mehr als fraglich. Erst recht ist nicht absehbar, zu welchem Zeitpunkt sie umgesetzt werden könnten. Doch mit jedem Tag ohne gemeinsame Standards werden wir ein Stück dieser gewohnten und hart erkämpften Grundsätze verlieren.
Das zweite der beiden Phänomene, die Digitalisierung, macht die Notwendigkeit dieser gesellschaftlichen Reaktion einer neuen Rechtsetzung auf europäischer wie internationaler Ebene deutlich. Mit der Loslösung vom Materiellen und der Übersetzung des Analogen ins Digitale werden die Orientierungspunkte unserer bisherigen Staatsorganisation nahezu bedeutungslos: Grenzen, Warenein- und ausfuhren (und deren Kontrolle oder Beschränkung), Unternehmenssitze oder gar Territorialität an sich. Der Handel mit Produkten wird zum Handel mit Daten. Am Ende womöglich mit der noch kaum vorstellbaren Rematerialisierung des Digitalisierten per 3D-Drucker, der Vorbote einer Science Fiction-Welt, in der wir selbst organische Dinge kopieren können. Bislang steckt diese Entwicklung noch in den Kinderschuhen. Doch bereits heute wird deutlich, wie sich die Möglichkeiten bis ins Undenkbare erweitern, wenn im Grunde nur noch die Informationen über eine Sache oder einen Menschen benötigt werden, um eine gleichartige Kopie herzustellen.
Die schleichende Entmündigung
Schon seit einigen Jahren spielt das Thema Identitätsdiebstahl eine zentrale Rolle. Kreditkarten werden kopiert, Fingerabdrücke oder gar Iris-Scans zur Identifizierung einfach geklaut. Unser wirtschaftliches und gesellschaftliches Leben verlagert sich von analogen Handlungen zu digitaler Kommunikation, ohne dass wir dabei eine Transformation der klassischen Sicherheiten einer Gesellschaft mitdenken. Das Analoge wird zum Sklaven des Digitalen.
Die Antwort des Silicon Valley auf diese dramatische Umwälzung unserer Gesellschaft lautet: Alles wird gut. Es wird schon nichts passieren, denn die Googles und Facebooks dieser Welt werden schon auf uns achten. Damit entmündigen uns nicht nur als Kunden, sondern auch als Bürger demokratischer, rechtsstaatlicher Gesellschaften. Sie diktieren uns ihre Regeln. Sie sammeln über uns, was sie bekommen können, ohne uns zu fragen. Die harte Währung des digitalen Zeitalters wird uns aus der Hosentasche gezogen und wir merken es nicht einmal. Dieser Prozess verlief und verläuft so schleichend und praktisch dereguliert, dass die Unternehmen, die wir bislang als bedeutungslose Internetseiten verbucht haben, heute die größten Konzerne der Welt sind - mächtiger als fast alle Unternehmen und Staaten, die es je zuvor gegeben hat.
Geringschätzung des Datenschutzes
Es ist eines der schwersten Versäumnisse der Geschichte, dass die Politik diese Entwicklung so lange ignoriert hat. Trotz der Überwachungsskandale der Vergangenheit und zahlreicher klar erkennbarer Fehlentwicklungen beim Umgang mit personenbezogenen Daten wurde der Datenschutz immer wieder als technische Randmaterie und als politisch nachrangig betrachtet. In einer Umfrage des ZDF im Januar 2014 über die bedeutendsten politischen Herausforderungen landete der Datenschutz mit gerade mal drei Prozent der Nennungen lediglich auf Platz 15. Dabei ist er quasi die einzige zentrale Grundregel im digitalisierten Leben.
Grundrechte, Demokratie und Rechtsstaat hängen davon ab, ob die freiheitlichen, demokratischen Staaten der Welt und allen voran Europa einen effektiven Schutz unserer informationellen Selbstbestimmung – also der Entscheidungsfreiheit und Kontrolle über die eigene Persönlichkeit – auch im globalisierten und digitalisierten Zeitalter garantieren können. Wir müssen wieder mündig werden und in die Schlacht um unsere Freiheit ziehen.
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