Holger Schmieding ist Chefvolkswirt der Berenberg Bank. Er schreibt hier regelmäßig über makroökonomische Themen.
Mit einer knappen Mehrheit von 52 Prozent gegen 48 Prozent haben sich die Bürger des Vereinigten Königreichs für den Austritt aus der EU entschieden. Dabei hat sich vor allem die Wut vieler Briten in wirtschaftlich weniger erfolgreichen Teilen Englands auf das „Establishment“ Bahn gebrochen. Nur der kosmopolitische Großraum London sowie, Schottland, Nordirland und die eher keltisch geprägten Teile von Wales haben sich mehrheitlich für die EU ausgesprochen.
Für Großbritannien hat eine Phase extremer Unsicherheit begonnen. Politisch geht es um vier Fragen:
1. Neue Regierung
Kann ein neuer Premierminister es schaffen, die völlig zerstrittenen Konservativen so hinter sich zu einigen, dass er – oder sie – tatsächlich regieren kann? Denkbar ist, dass der künftige Premierminister, der ja von der Königin ernannt wird, ohne vorab vom Parlament gewählt zu sein, für seine Politik im Parlament keine Mehrheit findet. Unter den Angeordneten sind insgesamt etwa zwei Drittel gegen den Austritt aus der EU. Auch wenn sie den Volkswillen in dieser Frage nicht aushebeln werden, können sie einem neuen Regierungschef dennoch das Leben sehr schwer machen. Das ist gut möglich, wobei es den führenden Austrittswahlkämpfer Boris Johnson mehr treffen könnte als die weniger in Grabenkämpfe verwickelte Innenministerin Theresa May, die ebenfalls Chancen auf den Einzug in 10 Downing Street hat.
2. Labour Party
Wird auch die Labour Party sich zerfleischen, da viele Labour-Abgeordnete den eher linksradikal gestrickten Parteichef Jeremy Corbyn für das Brexit-Desaster mitverantwortlich machen? Corbyn hat nur verhalten und spät für den Verbleib in der EU geworben. Die EU-Aussteiger haben die Volksbefragung vor allem deshalb gewonnen, weil traditionelle Labour-Wähler der Linie ihrer eigenen Partie nicht gefolgt sind.
3. UKIP
Können die englischen Nationalisten der UKIP-Partei den Streit innerhalb der Konservativen und der Labour Party so für sich nutzen, dass sie selbst unter Bedingungen des englischen Mehrheitswahlrechts zu einer echten Gefahr für die etablierten Parteien werden können? Denkbar ist das zumindest.
4. Schottland
Wird Schottland das Vereinigte Königreich verlassen, um in der EU zu bleiben? Beim derzeit niedrigen Ölpreis vermutlich nicht. Aber das Risiko ist erheblich, dass die Schottische Nationalpartei, die das Regionalparlament in Edinburgh beherrscht, bald ein weiteres Referendum über die schottische Unabhängigkeit ansetzen könnte, statt sich nur die Möglichkeit offenzuhalten.
London wird wichtig bleiben
Die britische Wirtschaft ist fundamental stark. Das Leben geht weiter. Aber wir erwarten, dass Unternehmen nach dem Brexit-Schock in den kommenden Quartalen weniger investieren werden. Gerade globale Unternehmen, die Großbritannien als Sprungbrett in den gesamten europäischen Markt nutzen, werden sich wohl sehr zurückhalten. Damit könnte der britische Aufschwung vorerst nahezu zum Erliegen kommen.
Auch nach dem Ende einer kurzfristigen Konjunkturkrise dürfte das britische Trendwachstum künftig langsamer ausfallen, da London nicht mehr im gewohnten Ausmaß das Dienstleistungszentrum für Europa bleiben kann. Denn mit dem Brexit wird London aus EU-Sicht von einem „Onshore“- zu einem „Offshore“-Zentrum für Finanz- und andere Dienstleistungen. Dank seiner vielen traditionellen Standortvorteile, zu denen unter anderem die Flexibilität und Qualität der Arbeitskräfte sowie die englische Sprache gehören, wird London wichtig bleiben. Aber einige Geschäftsbereiche werden wohl in direkt durch die EU-regulierte Gebiete abwandern müssen.
Eine echte Sterling-Krise erwarten wir nicht. Aber angesichts des großen Leistungsbilanzdefizits des Vereinigten Königreiches, das Ende 2015 sieben Prozent der Wirtschaftsleistung erreichte, ist das Land auf das Vertrauen ausländischer Investoren angewiesen. Sollte das politische Chaos immer mehr zunehmen, ist eine Währungskrise wohl nicht mehr auszuschließen.
Geringe Langfristschäden für Europa
Auch für die anderen 27 Mitgliedsländer der EU ist das Votum der Briten für einen Ausstieg aus der EU ein Schock. Der direkte wirtschaftliche Schaden kann sich in engen Grenzen halten. Wir rechnen damit, dass sich das Wachstumstempo in der Eurozone und in Deutschland für einige Quartale durch den Brexit-Beschluss um jeweils 0,2 Prozentpunkte gegenüber Vorquartal verlangsamt.
Aus rein wirtschaftlicher Sicht dürften die Langfristschäden für Europa gering bleiben. Dass ein wichtiger Handelspartner, das Vereinigte Königreich, künftig weniger dynamisch sein wird, schmerzt ein wenig. Aber die EU-27 verdienen nur drei Prozent ihrer Wirtschaftsleistung durch Ausfuhren auf die andere Seite des Kanals. Der etwas geringeren Dynamik in diesem Segment stehen vermutlich einige kleinere Gewinne an Arbeitsplätze gegenüber, die sich aus der Verlagerung von Jobs aus London auf den Kontinent ergeben werden.
Für die anderen EU Mitglieder - und vor allen für die Eurozone - kommt es in erster Linie auf die politische Entwicklung an. Werden weitere Länder dem britischen Beispiel folgen wollen? Populisten gibt es schließlich auch anderswo. Auszuschließen ist das nicht. Ein solches Ausscheiden könnte die Politik und Wirtschaft auf dem Kontinent stärker erschüttern. Aber wahrscheinlich ist es doch nicht. Gerade die aktuellen Turbulenzen und die möglichen Schäden, auf die Großbritannien sich jetzt einstellen muss, können dafür sorgen, den Zulauf für Populisten andernorts auf Dauer wieder einzugrenzen.
Scheiden tut weh. Die Risiken sind außerordentlich hoch, im Vereinigten Königreich noch wesentlich mehr als in den anderen EU-Staaten. Aber auch in der Euro-Krise hat Europa gezeigt, dass es nach mancherlei Schwierigkeiten letztlich doch mit großen Herausforderungen umgehen kann. Diese Fähigkeit wird jetzt erneut hart getestet.
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