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Kommentar Der Brexit fällt aus

Ungeachtet des Geschreis auf beiden Seiten sollte das Brexit-Drama nicht den Extremisten überlassen werden. Von Gideon Rachman
Boris Johnson war der Kopf der "Leave"-Kampagne: Aber will er tatsächlich Großbritannien aus der EU führen?
Boris Johnson war der Kopf der "Leave"-Kampagne: Aber will er tatsächlich Großbritannien aus der EU führen?
© Getty Images
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Gideon Rachman ist Kolumnist der Financial Times. Er schreibt über Wirtschaft und Politik (Foto: Interfoto)

Zu jedem guten Drama gehört das Mittel des „Suspense“, des Momentes, in dem man es nicht glauben kann. So war es auch bei der Brexit-Entscheidung. Am Freitagmorgen um vier Uhr ging ich schlafen, deprimiert, dass die Briten dafür gestimmt hatten, die EU zu verlassen. Am Tag darauf wurde meine Stimmung noch düsterer. Aber dann, mit etwas Verzögerung, wurde mir klar, dass ich diesen Film schon mal gesehen hatte. Ich kenne das Ende. Und es ist nicht der Austritt Großbritanniens aus der EU.

Jeder, der die EU seit langem beobachtet, kennt doch den Referendums-Schock: 1992 stimmten die Dänen gegen den Maastrichter Vertrag. Die Iren lehnten sowohl den Vertrag von Nizza in 2001 als auch den Lissabon-Vertrag 2008 ab.

Und was passierte in jedem dieser Fälle? Die EU machte einfach weiter. Die Dänen und die Iren bekamen von ihren EU-Partnern einige Zugeständnisse und setzten ein zweites Referendum an. Und beim zweiten Mal stimmten sie für den Vertrag. Vor diesem Hintergrund warum sollte irgendjemand glauben, dass die Entscheidung der Briten endgültig ist?

Es stimmt, dass es im britischen Fall neuartige Elemente gibt. Großbritannien hat sich dafür ausgesprochen, die EU vollständig zu verlassen. Es ist eine größere Volkswirtschaft als Irland oder Dänemark und das verändert die Psychologie der Beziehung. Und es trifft sicherlich zu, dass die wichtigsten Spieler in dem Drama offenbar davon überzeugt sind, dass es real ist. Premierminister David Cameron hat seinen Rücktritt erklärt, der britische EU-Finanzkommissar Jonathan Hill ist ihm prompt gefolgt.

Johnson will nur Cameron beerben

Trotzdem gibt es schon Hinweise, dass Großbritannien statt auf den Ausgang auf ein zweites Referendum zusteuern könnte. Boris Johnson, der Anführer der „Leave“-Kampagne und der wahrscheinliche Nachfolger Camerons, hat im Februar einmal Einblicke in seine wahren Überlegungen gegeben, als er sagte: „Es gibt nur einen Weg, um die Veränderungen zu erreichen, die wir brauchen – und das ist für die Trennung zu stimmen; weil die Geschichte der EU zeigt, dass sie der Bevölkerung nur dann wirklich zuhören, wenn die nein sagt.“

Johnson kennt die Geschichte zweier Referenden sehr gut – er war Journalist in Brüssel, als die Dänen über Maastricht abstimmten. Und es ist bekannt, dass er nie ein 100-prozentiger „Brexiteer“ war. Er hat bis zur letzten Minute gezögert, bis er sich auf eine Seite geschlagen hat. Sein wichtigstes Motiv war es ziemlich sicher, Premierminister zu werden. Für den EU-Austritt zu kämpfen, war für ihn in erster Linie Mittel zum Zweck. Wenn er erst einmal Downing Street Nr. 10 betreten hat, kann er seine Haltung zur EU ändern.

Aber wären die europäischen Partner willens, da mitzumachen? Gut möglich. Man sieht das an den Äußerungen des deutschen Finanzministers Wolfgang Schäuble, der von Verhandlungen über eine „assoziierte“ Mitgliedschaft Großbritanniens gesprochen hat. In der Realität genießt das Königreich ja schon eine Form der assoziierten Mitgliedschaft, denn es nimmt nicht an der gemeinsamen Währung oder der Schengen-Zone teil. Verhandlungen, die darauf abzielen, dass das Land noch mehr Distanz zum harten Kern des Blocks bekommt, während es zugleich den Zugang zum Binnenmarkt behält, wären nur eine weitere Ausdifferenzierung des schon existierenden Modells.

Notbremse bei der Freizügigkeit

Welche Art von Zugeständnissen sollte Großbritannien gemacht werden? Die Antwort darauf ist einfach. Was Johnson bräuchte, um ein zweites Referendum zu gewinnen, ist eine Notbremse bei der Freizügigkeit. Großbritannien müsste die Möglichkeit bekommen, die Zahl der EU-Zuwanderer zu begrenzen, wenn sie eine bestimmte Schwelle überschreitet. Im Rückblick betrachtet war es ein großer Fehler der EU Cameron in den Verhandlungen über die Reform der Beziehungen Anfang des Jahres genau dieses Zugeständnis nicht zu machen. Wahrscheinlich war es genau dieser Faktor, der ihn den Sieg beim Referendum gekostet hat. Weil er den Briten nicht sagen konnte, dass es eine Obergrenze für Immigration gibt.

Aber auch so war das Ergebnis mit einem Stimmanteil von 48 Prozent für den Verbleib in der EU knapp. Wenn die „Remain“-Kampagne in ein zweites Referendum mit einer ordentlichen Antwort in der Immigrationsfrage gehen kann, dann sollte sie die Abstimmung ohne größere Anstrengung für sich entscheiden können.

Aber warum sollte Europa den Briten bei der Freizügigkeit so entgegenkommen? Weil die Briten ungeachtet des derzeitigen Ärgers ein wertvolles Mitglied der EU sind. Großbritannien ist ein wichtiger Nettozahler und eine ernst zu nehmende militärische und politische Macht.

Genauso wie es schmerzhaft für Großbritannien wäre, den Zugang zum Binnenmarkt zu verlieren, wäre es schmerzhaft für die EU, den Zugang zum britischen Arbeitsmarkt zu verlieren. Mehr als drei Millionen EU-Bürger leben und arbeiten auf der Insel, allein 800.000 Polen.

Das Ende ist noch nicht geschrieben

Die Zustimmung zu einer Immigrations-Notbremse würde die Zuwanderung in der Zukunft womöglich etwas einschränken. Aber das wäre immer noch viel besser als die viel härteren Beschränkungen, die folgen würden, wenn sich Großbritannien ganz aus der EU zurückzieht

Natürlich gäbe es einen Aufschrei auf beiden Seiten des Kanals, wenn ein solcher Deal zustande kommt. Die hundertprozentigen Ausstiegsbefürworter in Großbritannien würden sich betrogen fühlen. Und auch die überzeugten Föderalisten im Europäischen Parlament, die das Königreich bestrafen und die politische Union vorantreiben wollen, werden Widerstand gegen eine solche Lösung leisten.

Aber es gibt keinen Grund dafür, dass die Extremisten auf beiden Seiten das Ende dieser Geschichte schreiben. In Großbritannien genauso wie in Europa gibt es eine moderate Mitte. Ihr sollte es gelingen, eine Vereinbarung zu finden, die Großbritannien in der EU hält. Wie jedes gute Drama, war die Brexit-Story schockierend, dramatisch und aufregend. Aber das Ende ist noch nicht geschrieben.

Copyright The Financial Times Limited 2016

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