Robert Skidelsky ist Mitglied des britischen Oberhauses und emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Warwick.
Mein schmerzlichstes Erlebnis in Russland war ein Besuch in Perm-36 im Jahr 1998, dem einzigen von Stalins Zwangsarbeiterlagern, das erhalten geblieben ist. Ich war damals in Perm, einer Stadt im Ural, um an einem Seminar der Moskauer Schule für politische Studien teilzunehmen. Ziel dieser von der bemerkenswerten Lena Nemirowskaja gegründeten Schule war es, junge Menschen im postkommunistischen Russland mit Demokratie, Selbstverwaltung und Kapitalismus bekannt zu machen.
An einem bitterkalten Märztag schloss ich mich Freunden zu einem Besuch des ehemaligen Lagers an. Anfang der 1940er-Jahre als „reguläres“ Arbeitslager errichtet, wurde Perm-36 1972 in ein Konzentrationslager für politische Gefangene umgewandelt.
Die letzten Gefangenen wurden dort 1987 entlassen, drei Jahre nach dem Regierungsantritt Michail Gorbatschows. Zur Zeit meines Besuchs wurde es von Memorial, einer von dem Physiker und Dissidenten Andrej Sacharow gegründeten Menschenrechtsorganisation, als Gulag-Museum restauriert, um die Russen an ihre totalitäre Vergangenheit zu erinnern.
Wir wurden im Hochsicherheitstrakt herumgeführt. Umgeben von Stacheldraht, waren dort einst die politischen Gefangenen – überwiegend aus nicht-russischen Sowjetrepubliken – untergebracht, die als „besonders gefährliche Wiederholungstäter“ galten. Nachdem ein ukrainisches Fernsehteam das Lager 1989 gefilmt hatte, war ein Teil davon vorsätzlich zerstört worden.
Eingefrorene Gesichter
Es war offensichtlich, dass die Gefangenen psychischer Folter und schlimmsten körperlichen Strapazen ausgesetzt worden waren. Der winzige Heizkörper in jeder Zelle dürfte gegen den von Oktober bis April herrschenden Frost kaum etwas ausgerichtet haben. Die Gefangenen schliefen auf Holzbohlen oder eisernen Pritschen. Ihre Kleidung bestand aus Baumwolle, nicht aus Wolle, und als Zellentoilette diente ein offenes Loch.
Unsere Führerin, Maya, erklärte, dass die Behörden bewusst Gefangene zusammenlegten, die einander auf die Nerven gingen. Tagsüber wurden sie über den Flur in identische Zellen verlegt, in denen sie nutzlose Eisengeräte fertigten. Eine Stunde pro Tag durften sie in den „Bewegungsblock“ – einem quadratischen Raum mit 2,7 Meter langen zinnverkleideten Wänden und einem mit Stacheldraht versehenem Dach, auf dem oben ein Wächter saß. Die einzig andere „Erholung“ bestand in der wöchentlichen Vorführung von Propagandafilmen.
Von den 56 in Perm-36 in den 1980er-Jahren gefangen gehaltenen „gefährlichen Wiederholungstätern“ starben sieben. Einer von ihnen war der ukrainische Dichter und Nationalist Wassyl Stus. Die Behörden nannten es Selbstmord, doch Überlebende berichten, dass die Wächter aus Spaß eine der hölzernen Bohlen von der Wand abschraubten und dem schlafenden Stus auf den Kopf fallen ließen.
Während Maya diese grausige Geschichte erzählte, betrachtete ich die Gesichter der beiden jungen Männer, die uns als Wächter begleiteten. Ihr Gesichtsausdruck war so eingefroren wie der Boden draußen. Dachten sie an Fußball oder Sex mit ihren Freundinnen? Wären auch sie – mit genügend Wodka intus – in der Lage gewesen, aus Spaß einen Mord zu begehen? Die Antwort, so fürchte ich, ist vermutlich ja. Unrechtssysteme scheinen sich nie schwer zu tun, abgestumpfte Schergen zu finden, die sie brauchen.
Keine Chance für liberale Ideen
Organisationen wie Memorial und die Moskauer Schule für politische Studien haben keinen Platz in Wladimir Putins Russland. Offiziell gelten sie als „ausländische Agenten“, und sie sind in einem Umfang rechtlichen Schikanen ausgesetzt, dass sie kaum noch ihre Arbeit tun können.
Das Gulag-Museum steht heute unter neuer Verwaltung. „Die neue Präsentation“, schreiben Michail Danilowich und Robert Coalson, „ist nicht den repressiven Zwangsarbeitspraktiken der Stalin-Zeit gewidmet, sondern der Bauholzfertigung im Werk und ihrem Beitrag zum sowjetischen Sieg im Zweiten Weltkrieg.“ Und nach 20 Jahren wurde die Moskauer Schule für politische Studien gezwungen, ihre Arbeit in Russland einzustellen.
Das Schicksal des Museums und der Schule ist Teil der umfassenderen Unterdrückung der Meinungs- und Verhaltensfreiheit in Putins dritter Amtszeit als Präsident. Dissidenten werden routinemäßig als Abweichler, fünfte Kolonne und Verräter verunglimpft, während das Regime eine Kampagne zur Förderung der nationalen Einheit auf der Grundlage von Religion, Tradition und paranoider Rhetorik vorantreibt.
Das stellt eine erhebliche Veränderung gegenüber der Frühphase nach dem Ende der Sowjetunion dar. Die vom ersten demokratisch gewählten Ministerpräsidenten des Landes, Jegor Gaidar, angeführte liberale Partei Wybor Rossii (Russlands Wahl) erhielt bei den Parlamentswahlen 1993 15,5 Prozent der Stimmen. Sie und ihre Verbündeten bildeten den größten Block in der Duma. Trotzdem galt das damals als katastrophales Scheitern. Heute schaffen es liberale Kandidaten noch nicht einmal in die Duma.
der Westen war keine Hilfe
Wie konnte das passieren? Warum wurden die von Gorbatschows Glasnost geweckten Hoffnungen so grausam zunichte gemacht? Eine weit verbreitete Ansicht besagt, dass Russland lediglich auf alte Muster zurückfällt: Die Freiheit sei nie mehr als ein flüchtiger Vokal im historischen Alphabet des Landes gewesen. Doch diese Erklärung macht es sich zu einfach.
Es stimmt schon, der russische Liberalismus hat durch seine Inkompetenz und Zerstrittenheit selbst zu seinem Niedergang beigetragen. Aber der Westen war keine Hilfe. In den 1990er-Jahren versäumte er es, die von ihm propagierten Wirtschaftsreformen finanziell zu unterstützen. Die Erweitung der Nato in die Baltischen Staaten im Jahr 2002 – die erste Bündniserweiterung auf ehemals sowjetischem Boden – war ein katastrophaler Fehler, der es einem Russen fast unmöglich machte, sowohl Patriot als auch prowestlich zu sein. Der Westen hat durch sein Handeln und seine Unterlassungen dem politischen Liberalismus in Russland den Boden entzogen und so den Aufstieg des Putinismus erst ermöglicht.
Bisher hat Putin ein präzises Gespür für seine Grenzen gezeigt. Er erlaubt es den Russen, von Größe zu träumen, ohne sie in ernste Schwierigkeiten zu bringen. Unter seiner Führung hat Russland achselzuckend die Sanktionen bewältigt, ein neues Bündnis mit China geschmiedet und den Westen in Syrien geärgert, aber nicht offen herausgefordert. Diejenigen freilich, die Putin kennen, sagen, dass er keine Diskussion dulde; er allein stecke die Grenzen ab. Und niemand kann so lange wie er die höchste Macht innehaben, ohne davon korrumpiert zu werden.
Für den Moment ist in Russland der Putinismus allein maßgeblich. Doch auch wenn die von Memorial und der Moskauer Schule für politische Studien vertretenen Kräfte marginalisiert sind: Vernichtet sind sie nicht.
Aus dem Englischen von Jan Doolan
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