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Kolumne Russland und die Seidenstraße

Von einer Wiederbelebung der Seidenstraße profitieren China, Russland und Europa. Von Ana Palacio
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Ana Palacio war spanische Außenministerin und Vizepräsidentin der Weltbank. Derzeit ist sie Mitglied des spanischen Staatsrats

Die Auflösungserscheinungen in der Ukraine rücken drei wichtige außenpolitische Herausforderungen des Westens in den Vordergrund: die Gefahr einer Isolation Russlands, das Rätsel der chinesischen Zurückhaltung und den allumfassenden Mangel an neuen Ideen. Zur Überwindung dieser Probleme bedarf es einer konzertierten Anstrengung, um zwischen Ländern mit unterschiedlichen politischen Systemen und nationalen Interessen die Zusammenarbeit zu stärken und Vertrauen aufzubauen. Der Vorstoß des chinesischen Präsidenten Xi Jinping zur Schaffung eines Wirtschaftsgürtels entlang der Seidenstraße könnte einen Beitrag zu derartigen Bemühungen darstellen.

Die Reaktion Europas und der Vereinigten Staaten auf die Ukraine-Krise Ukraine war in zweierlei Hinsicht ein Fehlschlag. In allererster Linie war sie lasch und vermittelte ein Bild der Schwäche. Das untergräbt die Fähigkeit dieser Länder, die stillschweigend akzeptierte Annexion der Ukraine durch Russland rückgängig zu machen oder Russlands aggressivem Verhalten gegenüber der Ostukraine etwas entgegenzusetzen. Gleichzeit tragen zielgerichtete Sanktionen und diplomatische Rüffel zu Russlands internationaler Isolation bei, wodurch das langfristige Ziel torpediert wird, funktionierenden Beziehungen aufzubauen.

Obwohl es für den Westen von entscheidender Bedeutung ist, zu seinen Prinzipien zu stehen und auch drastische Sanktionen zu verhängen, ist Pragmatismus ebenso wichtig. Schließlich ist ein schwaches, isoliertes Russland weitaus gefährlicher als ein starkes, international integriertes Russland. Und dennoch lässt es sich nicht leugnen, dass die Beziehungen zu Russland mittlerweile zerrüttet sind, wobei das gegenseitige Vertrauen den tiefsten Stand seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion erreicht hat.

China muss mitmachen

Um Russland wieder auf die internationale Bühne zurückzubringen, muss China mit ins Boot geholt werden. Doch die Ukraine ist für China eine schwierige Angelegenheit, weil China an engeren Beziehungen zu Russland interessiert ist und, weil es bis zu einem gewissen Grad Parallelen zu seinem eigenen Vorgehen in Regionen wie Tibet gibt. Vor diesem Hintergrund – und aufgrund der allgemeinen Zurückhaltung Chinas in Zusammenhang mit der Übernahme einer globalen Führungsrolle – ist ein direktes chinesisches Engagement erst auf Basis gezielter Initiativen mit konkreten Zielen wahrscheinlich.

Genau das bietet ein Wirtschaftsgürtel entlang der Seidenstraße, wie ich bei meinem jüngsten Besuch in Peking erfahren habe. Die im letzten September lancierte Initiative zielt darauf ab, die Verbindungen zwischen asiatischen und europäischen Märkten zu verbessern, wobei alle 18 zentralasiatischen und europäischen Länder entlang dieser Route konkret profitieren würden, auch Russland.

Wenn man nicht zu einer Spaltung wie im Kalten Krieg zurückkehren oder eine Balkanisierung Osteuropas vermeiden möchte, braucht die Welt genau ein derartiges Projekt - mit dem auf Grundlage des persönlichen Austausches, besserer Handelsströme und erhöhtem Bargeldumlauf der gemeinsame Wohlstand gefördert werden soll. Die beste Möglichkeit, Zusammenarbeit und Vertrauen herzustellen, sind schließlich klare Vorteile für alle Beteiligten.

Potenzial darf nicht Einzelinteressen zum Opfer fallen

Obwohl offizielle chinesische Vertreter allgemein von einer Verbesserung des Austausches zwischen den Menschen, von Lockerungen der Devisenbeschränkungen und dem Abbau von Handelsschranken sprechen, erfordert die Wiederbelebung und Modernisierung der antiken Seidenstraße auch eine auf Interoperabilität und multimodaler Konnektivität beruhende funktionierende Infrastruktur. Der Ausbau eines starken Verkehrsnetzes aus Straßen, Binnenwasserwegen, Flug- und Schiffsverbindungen würde einen Kaskadeneffekt nach sich ziehen und durch die Optimierung von Lieferketten gleichzeitig signifikante – und unmittelbare – wirtschaftliche Gewinne mit sich bringen. Von entscheidender Bedeutung bei diesen Bemühungen sind die Bahnverbindungen, weil dadurch überlastete und unsichere Schifffahrtsrouten umgangen und raschere Verbindungen hergestellt werden können - und das auch noch umweltfreundlicher. Heute dauert der Gütertransport von China nach Europa auf der Schiene halb so lang wie mit dem Schiff.

Es besteht allerdings die Gefahr, dass China einen bilateralen Ansatz verfolgt und das Projekt für seine begrenzten außenpolitischen Interessen benutzt. Obwohl China möglicherweise über die Mittel verfügt, die von der Initiative vorgesehenen groß angelegten Infrastrukturprojekte zu finanzieren, würde eine derart zersplitterte Strategie, die Integration behindern und auch manche in ihrer Meinung bestärken, dass das aufstrebende China eine Bedrohung der internationalen Ordnung darstellt. Die chinesische Führung sollte das erkennen. Wenn der Wirtschaftsgürtel entlang der Seidenstraße sein Potenzial ausschöpfen soll, muss das Projekt auf einer umfassenderen Vision gründen, die eine Vielfalt an Finanzierungsmöglichkeiten, Besitzverhältnissen und eine wirksame Organisation durch eine Reihe von Akteuren vorsieht.

Mit ihrer weltweiten Infrastruktur-Fazilität unterstützt die Weltbank seit kurzem einen derartigen breiten Ansatz, der es ermöglichen wird, multilaterale, regionale und nationale öffentliche Akteure sowie den privaten Sektor im Bereich der Finanzierung von Infrastrukturprojekten zu vernetzen. Auch die G-20, die de facto die internationale Agenda bestimmen, haben sich zur Unterstützung des Projekts bereit erklärt.

Europa kann seine Projekterfahrungen einbringen

Die Anwendung dieses umfassenden Modells auf das Projekt Seidenstraße – insbesondere durch die Einbeziehung Europas, Chinas, Russlands und multilateraler Institutionen - würde bestehende Initiativen stärken. So würde man beispielsweise die Strategie zur Erleichterung von Transport und Handel des zentralasiatischen Programms für wirtschaftliche Zusammenarbeit festigen, die unter der Schirmherrschaft der Asiatischen Entwicklungsbank mit Beiträgen der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung verfolgt wird.

Über die gemeinsame Finanzierung hinaus ist für den Erfolg eines derartigen Vorhabens allerdings auch eine effektive Koordination von zentraler Bedeutung. In diesem Bereich ist Europas Erfahrung mit Kompromissen und Harmonisierung von entscheidender Bedeutung. Um ihr fragmentiertes Verkehrswegenetz zu verbessern, erarbeitete die Europäische Union das Konzept eines Kernnetzes der Bahnkorridore – entlang wichtiger transnationaler Verkehrsflüsse, um fehlende Verbindungen auszubauen und Hindernisse zu beseitigen – das als Grundlage für Integration, Interoperabilität sowie koordinierte Entwicklung und Verwaltung von Infrastruktur dient. Damit wird der Dialog zwischen unterschiedlichen Interessensgruppen beschleunigt. Das European Rail Traffic Management System zur Verwaltung und Steuerung des Eisenbahnverkehrs, mit dem man unterschiedliche Sicherheitsstandards zwischen den Mitgliedsstaaten beseitigte und ein einheitliches System schuf, ist nur eine von vielen Erfolgsgeschichten, die diese innovative Strategie ermöglichte.

Europa hat bewiesen, dass ein Gefühl für gemeinsames Eigentum in Kombination mit konkreten Lösungen den produktiven Dialog fördert und die Tür zu einer wechselseitig vorteilhaften Zusammenarbeit öffnet. Die Seidenstraße bietet mehr als nur wirtschaftliche Chancen; sie dient auch den langfristigen Sicherheitsinteressen der Beteiligten. Zu einer Zeit, da so viele Verbindungen unterbrochen werden, ist das eine Chance, die sich Europa nicht entgehen lassen darf.

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier

© Project Syndicate 1995–2014

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