Rishi Sunak dürfte hoffen, dass William Shakespeare Recht behält. „Ein tiefer Fall führt oft zu höherem Glück“, heißt es bei dem berühmten Dramatiker. Und viel tiefer als der Premierminister, der an diesem Mittwoch genau ein Jahr im Amt ist, kann ein Politiker im Vereinigten Königreich wohl kaum fallen. Das Glück aber, das der Dichter einst in Aussicht stellte, müsste schon enorm sein, damit Sunak die massiven Probleme überwindet, die sich vor ihm türmen. Der Rückstand seiner Konservativen in den Umfragen ist enorm - eine Aufholjagd wirkt auch deshalb unrealistisch, weil der reichste Premier der Geschichte als abgehoben gilt.
Die Konservativen rutschen ab
Die britischen Medien sprachen von einer Demütigung: Die überraschend deutlichen Pleiten bei zwei Nachwahlen zum britischen Parlament haben dem Selbstvertrauen der Tories zuletzt einen weiteren Schlag versetzt. Plötzlich müssen selbst Abgeordnete, die 2019 ihre Wahlkreise mit großem Vorsprung gewannen, um ihre Mandate zittern. Man erlebe derzeit die „Sterbetage einer zerstörten Partei“, zitierte Sky-News-Reporterin Beth Rigby ein früheres Tory-Regierungsmitglied. Der Rückstand auf die sozialdemokratische Oppositionspartei Labour beträgt konstant 20 Punkte. Schafft Sunak keine Entlastung, droht den Tories bei der nächsten Parlamentswahl eine erdrutschartige Schlappe.
Die Wirtschaft stagniert unter dem Wirtschaftspremier
Staatsverschuldung: runter! Inflation: halbieren! Wirtschaft: ankurbeln! Wartezeiten im Gesundheitsdienst: senken! Irreguläre Migration: stoppen! An diesem Fünf-Punkte-Plan werde er sich messen lassen, hatte Sunak angekündigt. Die Bilanz aber spricht gegen den 43-Jährigen. „Fortschritte sind langsam und unstet“, meint der Politologe Tim Bale von der Queen Mary University of London. Deutlicher wird sein Kollege Mark Garnett: Derzeit ist keines der Ziele erreicht, wie der Experte von der Universität Lancaster vorrechnet. Vielmehr stiegen Staatsverschuldung wie Wartezeiten zuletzt, harte Gesetze gegen irreguläre Migration blieben unwirksam.
Sunak war am 24. Oktober 2022 zum Chef der Konservativen Partei und Nachfolger von Liz Truss gekürt und daraufhin am 25. Oktober von König Charles III. zum Regierungschef ernannt worden.
Sunak als Kandidat des Wandels?
Er stehe für Veränderungen, kündigte Sunak auf dem Jahrestreffen der Tories vor wenigen Wochen an. Es war ein außergewöhnlicher Anspruch angesichts der Tatsache, dass die Konservativen seit 13 Jahren regieren und Sunak selbst ihre Politik zuletzt mitgeprägt hat. Was Sunak als „langfristige Lösungen für eine strahlende Zukunft“ anpries, wirkte eher wie aus der Not geboren. Als der Premier, der viele Termine per Hubschrauber absolviert, Auflagen zum Klimaschutz lockerte, reagierte sogar die Industrie irritiert.
Wie die jüngsten Nachwahlen zeigen, verfangen Sunaks Botschaften nicht. Der erste Hindu in der Downing Street ist kein Menschenfänger, ein anonymer Tory-Abgeordneter attestierte ihm bei Sky News die „Führungsqualitäten einer Amöbe“. Vielmehr gilt der wohlhabende ehemalige Investmentbanker als abgehoben. Immer wieder gerät Sunak wegen Geschäftsinteressen seiner Gattin, deren Vater den indischen IT-Riesen Infosys gründete, in die Schlagzeilen. Jüngst berichtete die Zeitung „Guardian“, ein vom damaligen Finanzminister ins Leben gerufener Fonds zur Stützung von Start-ups in der Pandemie habe zwei Millionen Pfund an Firmen gezahlt, an denen seine Ehefrau Akshata Murty beteiligt ist.
Keine Hausmacht
Sunak sitzt dennoch recht sicher im Sattel, wie Experte Garnett sagt. „Aber das liegt teilweise daran, dass die meisten konservativen Abgeordneten eh davon ausgehen, dass die Partei die Parlamentswahlen verlieren wird.“ Hinter den Kulissen bringen sich potenzielle Nachfolger in Stellung. Besonders der lautstarke rechte Flügel um Innenministerin Suella Braverman treibt Sunak vor sich her. Mit populistischen Phrasen etwa zur Migration hat der Premier die Tories weiter nach rechts gerückt. Die Leere füllt die Labour-Partei.
Sunak verfügt keinesfalls über eine Hausmacht. Auch interne Gegner wie Ex-Kulturministerin Nadine Dorries weisen gerne darauf hin, dass Sunak nie gewählt wurde. Im Sommer 2022 unterlag er im Rennen um die Nachfolge von Boris Johnson zunächst Liz Truss. Erst als Truss nach historisch kurzer Amtszeit aufgeben musste, wurde er von der Fraktion im Schnellverfahren auf den Schild gehievt.
Keine Chance - kann er sie nutzen?
Sunak hat durchaus Erfolge vorzuweisen, wie auch Experten betonen. Er hat die Wirtschaft stabilisiert und nach den unruhigen Johnson-Jahren international verloren gegangenen Respekt zurückgewonnen. Nie waren die Beziehungen mit der EU seit dem Brexit besser als unter dem pragmatisch auftretenden Sunak. Doch Auswirkungen hat das kaum. Vielmehr könnte das für Ende November angekündigte Haushaltsstatement weitere Finanzlöcher enthüllen. Auch deshalb rechnen immer mehr Beobachter damit, dass Sunak die nächste Parlamentswahl so lange wie möglich hinauszögert. Der spätestmögliche Termin ist Januar 2025. In der schnelllebigen Politik ist das ausreichend Zeit für eine Kehrtwende - und für das von Shakespeare beschriebene höhere Glück.