Kommentar Putins Drohgebärden verschleiern seine schwache Position

In Genf finden zurzeit schwierige Gespräche zwischen Russland und den USA statt
In Genf finden zurzeit schwierige Gespräche zwischen Russland und den USA statt
© SNA / IMAGO
Russland lässt die Muskeln spielen. Doch die Demonstration außenpolitischer Stärke übertüncht nur die Schwäche des Kreml-Regimes. Denn die größere Bedrohung für die Herrschaft Wladimir Putins kommt aus dem Inland

Russland befindet sich im Belagerungszustand. Die Feinde des Landes sind bis an seine Grenzen vorgedrungen. Das feindliche Nato-Bündnis droht nun, sich die Ukraine einzuverleiben, die historisch und geistig zu Russland gehört. Es ist an Wladimir Putin – als Erbe Peters des Großen, Alexanders I. und Josef Stalins –, den Kampf vom Kreml aus zu führen.

Das ist im Großen und Ganzen die Geschichte, mit der die russische Regierung zu Beginn einer Woche mit entscheidenden Gesprächen mit dem Westen hausieren geht. Russland hat Truppen an seiner Grenze zur Ukraine zusammengezogen. Es droht mit einer Invasion seines westlichen Nachbarn, behauptet aber, dies sei eine defensive Reaktion auf die Nato-Expansion. Der Direktor des Carnegie Moscow Center Dmitri Trenin sagt, dass „die Ukraine Putins letzter Ausweg ist“.

Doch die Darstellung des Kremls ist unsinnig. Die Gefahr eines Nato-Angriffs gegen Russland existiert nicht. In den 1990er-Jahren sind viele Länder dem Bündnis beigetreten, weil sie eine russische Aggression fürchteten. Derzeit gibt es keine realistische Chance für einen Nato-Beitritt der Ukraine.

Daher würden alle Zugeständnisse, die der Westen bei den Gesprächen in dieser Woche anbieten könnte – in Bezug auf die Stationierung von Truppen oder die Erweiterung des Bündnisses - das Sicherheitsproblem Putins letztlich nicht lösen. Das liegt daran, dass die wirklichen Bedrohungen für den russischen Staatschef im Inland liegen.

Die innere Bedrohung ist größer als die äußere

Letztes Jahr um diese Zeit fanden in ganz Russland Demonstrationen zur Unterstützung des Oppositionspolitikers Alexej Nawalny statt. Seine per Video verbreiteten Enthüllungen brachten den opulenten Lebensstil von Putin und seinen Kumpanen ans Licht. Der Kreml behauptet mit zunehmender Vehemenz, dass alle seine inländischen Gegner „ausländische Agenten“ seien. In Wirklichkeit handelt es sich dabei hauptsächlich um normale Russen, die gegen die Regierung sind und sich der Tatsache bewusst sind, dass gefälschte Wahlen keine Hoffnung auf einen Wandel bieten. Nach einem gescheiterten Versuch, Nawalny zu ermorden, hat der Kreml ihn inhaftiert. Moskau bestreitet eine Beteiligung an der versuchten Ermordung Nawalnys, aber er bleibt eine größere Bedrohung für Putin als es die Nato je sein wird.

Als Inbegriff des russischen Nationalismus setzt Putin die Bedrohung seiner eigenen Herrschaft mit der Bedrohung der Nation gleich. Doch Putins persönliche Sicherheit und die nationale Sicherheit Russlands sind nicht dasselbe.

Es gibt jedoch einen Zusammenhang zwischen Putins innenpolitischen Problemen und seinen außenpolitischen Provokationen. Ein Krieg könnte eine Welle der nationalistischen Unterstützung für den russischen Präsidenten auslösen. Im Grunde genommen kann Putin an den Grenzen Russlands nur eine korrupte Autokratie tolerieren, die das Kreml-Regime nachahmt. Eine echte Demokratie würde eine Alternative darstellen, die der Opposition in Russland Mut machen könnte. Ein freies Land würde sich wahrscheinlich auch aus der Umklammerung des Kremls lösen und sich dem Westen anschließen.

Daher hat es Amerika nicht in der Hand, Russland die von Putin geforderte stabile „Einflusssphäre“ zu gewähren. Die korrupten Autokratien, die der Kreml an seiner Peripherie bevorzugt, sind aufgrund des sozialen Widerstands, den sie hervorrufen, von Natur aus instabil. Es war ein Volksaufstand, der 2013/14 eine korrupte, prorussische Regierung in der Ukraine stürzte.

Instabile Nachbarschaft

Zum Leidwesen des Kremls musste Russland Truppen entsenden, um die Unruhen im benachbarten Kasachstan zu unterdrücken – ausgerechnet am Vorabend der Gespräche zwischen den USA und Russland. Kasachstan ist ein Land, in dem das Durchschnittseinkommen bei rund 570 Dollar im Monat liegt, in dem aber die Familie von Nursultan Nasarbajew, der das Land von 1991 bis 2019 regierte, ausländische Immobilien im Wert von mindestens 785 Mio. Dollar erworben hat.

Die Unruhen in Kasachstan können mit Machtkämpfen innerhalb der herrschenden Kreise zusammenhängen. Solche Konflikte sind typisch für korrupte Autokratien. Wenn der Reichtum im Rahmen eines Beuteschemas aufgeteilt wird, führt jede Andeutung eines Führungswechsels zu Instabilität. Dieses Dilemma mag auch Putin bekannt vorkommen.

Kasachstan ist nicht der der einzige Staat in Russlands Nachbarschaft, der sich in Aufruhr befindet. Seit der gestohlenen Wahl in Belarus im Jahr 2020 unterdrückt Diktator Alexander Lukaschenko die Opposition im Land brutal. Der Kreml muss nun die kasachische und die belarussische Regierung stützen – und droht gleichzeitig mit einer Invasion in der Ukraine.

Bei all dem Gerede über die Stärke der russischen Position vor den Gesprächen in dieser Woche sollte man sich diese Probleme vor Augen halten In Wirklichkeit ist das moderne Russland gefährlich nahe daran, die Sowjetunion zu kopieren, die ihre Nachbarn durch Invasionen oder Einschüchterungen „freundlich“ gestimmt hat.

Ein Krieg wäre nur ein Scheinsieg für Putin und Russland

Ein kurzer, siegreicher Krieg könnte Putin vorübergehend Auftrieb geben. Aber ein Einmarsch in die Ukraine im Jahr 2022 wird das Überleben des Putin-Systems ebenso wenig sichern, wie der Einmarsch in die Tschechoslowakei im Jahr 1968 das Überleben der Sowjetunion gesichert hat. Langfristig würde ein Angriff auf die Ukraine das Sicherheitsdilemma Russlands sogar verschlimmern und Putins innenpolitische Position schwächen. Wenn sich der Krieg in die Länge zieht, dann würden die russischen Verluste steigen. Ein Konflikt brächte auch die Wirtschaft zum Erliegen und würde die Isolation des Landes verstärken.

Ein russischer Angriff auf die Ukraine brächte auch der Nato ein neues Selbstverständnis und könnte genau die Bündniserweiterung bewirken, gegen die sich Russland wehrt. Finnland und Schweden erwägen einen Nato-Beitritt, weil sie wegen der zunehmend bedrohlichen Äußerungen und Verhaltensweisen Moskaus alarmiert sind.

Selbst wenn es Russland gelänge, in Kiew ein Marionettenregime zu installieren, würde die Erinnerung an Moskaus Aggression dem ukrainischen Nationalismus neuen Auftrieb geben und die emotionale Spaltung zwischen Russland und der Ukraine zementieren, was für Putin ein Graus wäre. Alles in allem wäre es eine sehr merkwürdige Art von Sieg für den Kreml.

Copyright The Financial Times Limited 2022

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