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Bernd Ziesemer Putin spielt das Angsthasenspiel beim Erdgas

Capital-Kolumnist Bernd Ziesemer
Capital-Kolumnist Bernd Ziesemer
© Martin Kress
Kann Russland Westeuropa einfach so den Gashahn ganz abdrehen? Nur um den Preis der schweren ökonomischen Selbstbestrafung

Wladimir Putin hat die Westeuropäer mal wieder da, wo er sie haben will. Noch vor vier Wochen gingen es beim russischen Erdgas um die Frage, ob wir einen Boykott verhängen. Jetzt reden alle nur noch über die Frage, ob wir ab Juli überhaupt kein Gas mehr aus Russland bekommen, weil uns Putin einfach den Hahn zudreht. Vor allem in Deutschland geht die Furcht um vor kalten Wohnungen und einem Kollaps unserer Industrie. In Wahrheit spielt Putin jedoch nur das berühmte Angsthasenspiel mit uns. Wir kennen es aus dem James-Dean-Film „Denn sie wissen nicht, was sie tun“: Die beiden jugendlichen Helden preschen mit ihren Autos auf einen Abgrund zu – und wer zuletzt bremst, hat gewonnen. Im Fall von Erdgas glauben die meisten Deutschen, um im Bild zu bleiben, nur wir rasen aufs Verderben zu und Putin schaut gelassen zu. Das ist jedoch nicht der Fall: Russland sanktioniert sich selbst, wenn es die Lieferungen nach Westeuropa völlig einstellt.

Man muss genauer hinschauen: Russland kann die 200 Milliarden Kubikmeter, die pro Jahr nach Europa fließen, nicht einfach nach Asien umleiten, wie viele glauben. Es fehlen die notwendigen Pipelines und auch die Verflüssigungsanlagen, um Erdgas in diesen Mengen nach China oder Indien zu transportieren. Nach einer Studie des renommierten Center for Strategic and International Studies (CSIS) kann Putin im besten Fall 80 Milliarden Kubikmeter nach Asien lenken. Und das auch nur unter zwei Bedingungen: Wenn es Putin gelingt, die Pipeline nach China (Power of Siberia) auf volle Kapazität zu bringen – und wenn er die viel niedrigeren Preise akzeptiert, die seine chinesischen Freunde bereit sind zu zahlen.

Putin will die Europäer spalten

Selbst mittelfristig stehen die Aussichten für Putin schlecht, mehr Erdgas nach Asien zu liefern. Die beiden wichtigsten Projekte zur Erdgasverflüssigung in der Arktis und im Fernen Osten Russlands kommen ohne westliche Technologie nur schwer voran. Der kremlnahe Konzern Novatek spricht offen von „beispiellosen Herausforderungen“ durch die westlichen Sanktionen. Eigentlich sollte die erste Ausbaustufe des Projekts in der Arktis im nächsten Jahr fertig sein, jetzt nennt niemand mehr einen Termin.

Fährt Putin also die Lieferungen nach Deutschland und Europa tatsächlich auf Null zurück, bestraft er sich ökonomisch selbst. Russlands teuer erschlossene Gasquellen im hohen Norden müsste der Kremlherrscher mit großem finanziellem Aufwand schließen, wenn seine eigenen Speicher bis zum Rand gefüllt sind. Kann das passieren? Ja. Aber es ist doch eher unwahrscheinlich. In Wahrheit rechnet Putin anders: Wie kann man die Europäer am besten spalten, ohne selbst zu leiden? Am besten so: Man verknappt das Angebot, treibt den Erdgaspreis nach oben und spielt die EU-Staaten gegeneinander aus. Am deutlichsten zeigt sich das in Ungarn, wo Viktor Orban Putins Bauer im großen Schachspiel gegen die EU ist. Sein Land kann, wie Putin zeitgleich zu seiner Bestrafungsaktion gegen Deutschland und die EU erklärte, weiter mit pünktlichen Erdgaslieferungen in den vorbestellten Mengen und zum Billigpreis rechnen. Putin hofft, dass sich andere EU-Länder auf Orbans Seite schlagen, wenn erst die Panik umgeht.

Bisher handelt die Bundesregierung nicht, wie sie es in diesem Spiel müsste. Die wichtigste Frage ist nicht, wie lange uns Putin noch welche Mengen liefert, sondern wie man sein Preiskalkül durchkreuzt. Aus der Wissenschaft liegen verschiedenste Vorschläge auf dem Tisch, wie man Putins Extragewinne abschöpfen könnte. Auch die Idee eines zentralen Gaseinkaufs aller EU-Staaten gehört zu den notwendigen Überlegungen. Auf jeden Fall sollten wir nicht weiter wie das Kaninchen auf die Schlange starren, sondern selbst aktiv werden.

Bernd Ziesemer

ist Capital-Kolumnist. Der Wirtschaftsjournalist war von 2002 bis 2010 Chefredakteur des Handelsblattes. Anschließend war er bis 2014 Geschäftsführer der Corporate-Publishing-Sparte des Verlags Hoffmann und Campe. Ziesemers Kolumne erscheint regelmäßig auf Capital.de. Hier können Sie ihm auf Twitter folgen.

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