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Kommentar Peinliche Empörung über die EZB

Die Klagen von Verbraucherschützern und die angebliche Überraschung von Analysten über die Zinssenkung der Europäischen Zentralbank sind entweder gespielt – oder peinlich. Von Timo Pache
Timo Pache
Timo Pache
© Trevor Good

Dass es um die ökonomische Bildung der Deutschen nicht besonders gut bestellt ist, wird von Bildungsforschern schon länger beklagt. Eine Studie von drei Wissenschaftlern rund um den Berliner Psychologen Gerd Gigerenzer etwa förderte im Frühjahr dieses Jahres die bisweilen erschreckende Ahnungslosigkeit zu Tage. In der Umfrage unter rund 1000 Erwachsenen kannte mehr als ein Drittel nicht die wichtigsten Unterschiede zwischen Staatsanleihen und Aktien, über 70 Prozent scheiterten an einer einfachen Zinseszinsberechnung. Die Autoren der Studie attestierten den Deutschen "schwerwiegende Wissenslücken über ökonomische Fakten und Zusammenhänge".

Nun ist es jedem selbst überlassen, mit welchem Vorwissen er sich und sein Vermögen einem Bank- oder Versicherungsberater anvertraut. Es gibt in Deutschland, Gott sei Dank, keine Pflicht zum VWL-Diplom. Doch Ökonomie-Profis wie Bankanalysten oder auch Versicherungsexperten haben ihr Grundrecht auf ökonomische Ahnungslosigkeit qua Beruf verwirkt. Sie werden sogar meist sehr gut dafür bezahlt, um ihren Arbeitgebern oder Kunden am besten schon vor einer wichtigen Entwicklung oder Entscheidung gute Ratschläge zu geben. Zum Beispiel im Vorfeld eines Treffens des Rates der Europäischen Zentralbank (EZB) in Frankfurt.

Insofern mutet die Überraschung, mit der am Donnerstag viele Beobachter die Zinssenkung der EZB kommentierten, selbst, nun ja, überraschend an. Gerade mal gut vier Monate ist es her, dass EZB-Präsident Mario Draghi erstmals ankündigte, die Zinsen in der Euro-Zone würden für einen längeren Zeitraum niedrig bleiben – und bei Bedarf noch weiter gesenkt. Die neue Politik der "Forward Guidance" wurde von vielen Beobachtern als Zeitenwende in der EZB-Politik beschrieben – und umgehend kritisiert. Die einen monierten, durch Draghis Ankündigung werde die EZB für die Märkte berechenbar; die anderen warfen dem Italiener vor, nun ruiniere er mit seiner Politik des billigen Geldes endgültig das Vertrauen in die Gemeinschaftswährung. Natürlich machte auch die Furcht vor der großen Inflation die Runde.

Jeder kann Draghi verstehen

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EZB-Chef Mario Draghi

Den Satz, der EZB-Rat erwarte, "dass die wichtigen EZB-Zinssätze für eine längere Zeit auf dem gegenwärtigen Niveau oder darunter liegen werden", hat Draghi seither jeden Monat in seiner Pressekonferenz nach den Ratssitzungen wiederholt. Und das nicht nur einmal, sondern in jeder Pressekonferenz mehrfach. Mitunter musste er selbst dabei lachen, begründete seine Redundanz aber damit, er wolle sicherstellen, dass jeder seine Botschaft auch wirklich verstehe.

Entgegen der verbreiteten Erwartung in Deutschland ist die Inflation in der Eurozone nun im Oktober nicht gestiegen, sondern im Gegenteil deutlich auf 0,7 Prozent gesunken. Nun kann man lange und begründet darüber streiten, ob dies ein fundamentaler Trend oder doch eher ein Ausreißer ist. Man kann auch darüber diskutieren, ob sich in den 0,7 Prozent nicht die ganze verflixte Heterogenität des Euroraums spiegelt, da die berechnete und gefühlte Inflation in Deutschland deutlich höher liegt. Auch kann man berechtigte Zweifel haben, dass eine Senkung des Zinssatzes von nahe Null auf noch näher an Null überhaupt noch etwas bringt – große Wunder bei der Kreditvergabe sind von der Reduzierung von 0,5 auf 0,25 Prozent jedenfalls kaum zu erwarten.

Aber dürfen hoch bezahlte Analysten von der Entscheidung überrascht sein? Wenn sie ihr Geld als Ratgeber und Prognostiker wert sein wollen, lautet die Antwort: auf keinen Fall. Nichts anderes hatte Draghi den lieben langen Sommer über angekündigt, immer und immer wieder. Wenn man die eigenen Analysen strikt am Auftrag der Europäischen Zentralbank und der politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Gemengelage in der Euro-Zone ausrichtet (und nicht eigene politische Wünsche und Überzeugungen zum Maßstab seiner Erwartungen macht), dann darf man von der Zinssenkung nicht überrascht sein.

Kein recht auf hohe Zinsen

Und noch ein Wort zu den Versicherungsexperten und Verbraucherschützern, die nun die Enteignung der Sparer beklagen: Ja, es stimmt – niedrige Zinsen sind schlecht für das Ersparte. Die jahrelang von Politik und Versicherern propagierten privaten Vorsorgeverträge fürs Alter leiden erheblich. Aber der EZB eine Absicht zur Enteignung und Bestrafung von Sparern zu unterstellen, ist schon eine merkwürdige Verkehrung der Zusammenhänge. Es gibt kein Recht auf hohe Zinsen. Jede Zinszahlung, die sich Sparer erhoffen, muss zunächst verdient und erwirtschaftet werden. Und zwar dadurch, dass eine Bank oder Versicherung die Einlagen ihrer Kunden zur Kreditvergabe oder für Investitionen nutzt, darauf einen Zins berechnet und die Kreditnehmer ihr Darlehen plus Zinsen zurückzahlen. Dass dies in einer Situation, in der ganze Volkswirtschaften der Euro-Zone seit Jahren schrumpfen und Staaten und Unternehmen nicht nur nicht wachsen, sondern Kredite nicht mehr bezahlen und schließen müssen, schwierig wird, kann ebenfalls nicht überraschen.

Vermögenszusagen und Renditen sind nie einfach da, sondern müssen immer wieder neu erwirtschaftet werden. Dies gilt in der kapitalgedeckten Altersvorsorge genauso wie in der viel gescholtenen gesetzlichen Rentenversicherung. Umgekehrt aber haben auch Sparer und Besitzer von Kapitallebensversicherungen ein vitales Interesse daran, dass die Eurozone endlich aus der Dauerkrise kommt. Andernfalls sind ihre Ersparnisse ohnehin bald nicht mehr viel Wert. Mit einer Zinserhöhung, von der offenbar die Vertreter des Versicherungsgewerbes träumen, wäre der Totalverlust der Ersparnisse nur wahrscheinlicher.

All dies muss nicht jeder wissen – Analysten, Berater, Lobbyisten und Verbraucherschützer aber schon. Wahrscheinlich wissen sie es sogar und behaupten dennoch das Gegenteil. Das nennt man dann unredlich. Solche Ratschläge sind ihr Geld nicht wert, unser Geld. Dagegen schützt nur: mehr ökonomische Bildung.

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Foto: © Glow Images

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