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Kommentar Neue Macht über die Konzerne

Die Konzerne werden immer einflussreicher. Zugleich wachsen die Kontrollmöglichkeiten - über soziale Medien. Von Lucy P. Marcus
Über soziale Netzwerke lassen sich Unternehmen beeinflussen
Über soziale Netzwerke lassen sich Unternehmen beeinflussen

Lucy P. Marcus ist Gründerin und CEO von Marcus Venture Consulting. Außerdem ist sie "Professor of Leadership and Governance at IE Business School". Sie schreibt über Corporate Governance und Managementthemen

Auf der Welt finden derzeit zwei große Machtverschiebungen statt. Erstens nimmt die Macht der Konzerne gegenüber den Regierungen zu. Und zweitens gewinnen auch Normalbürger immer mehr Einfluss. Was bedeutet es, dass diese beiden scheinbar gegensätzlichen Veränderungen gleichzeitig stattfinden?

Zweifellos haben Unternehmen mehr Macht als jemals zuvor in ihren Händen. Menschen, die nicht öffentlich gewählt wurden, kontrollieren mehr und mehr unser tägliches Leben – von der Unterhaltungsindustrie über die Energieversorgung bis hin zu Schulen, Eisenbahnen und Postdiensten. Gleichzeitig wird die Gesetzgebung mit hoher Geschwindigkeit vom technologischen Fortschritt überholt, das heißt Konzerne agieren immer stärker in einer nicht-regulierten Grauzone.

Trotzdem aber verfügen die Menschen über Mittel und Wege, um das Verhalten der Unternehmen nicht außer Kontrolle geraten zu lassen. Sie sind immer besser ausgebildet, kennen die Arbeitsweise von Konzernen, und wenn sie der Meinung sind, eine Firma habe eine Grenze überschritten, sind immer mehr Menschen zu Protesten und Aktionen bereit. Die Öffentlichkeit wird zunehmend zum Gewissen von Unternehmen und Industrie, in dem sie harte Fragen stellt und Rechenschaft einfordert.

gewisses Maß an Kontrolle

In den letzten Jahren haben die Menschen durch effizientere Mittel gemeinsamen Handelns – wie soziale Medien, offene Publikationsplattformen und Online-Videoverbreitung – größere Aktionsmöglichkeiten gewonnen. Mit Boykotten und dem Abzug von Geld, dem Lobbying für Gesetze und Social-Media-Kampagnen sind die Menschen mit wachsendem Selbstbewusstsein in der Lage, operative und strategische Unternehmensentscheidungen zu beeinflussen, und damit den heutigen enormen Ansammlungen privater Macht ein gewisses Maß an Kontrolle entgegenzusetzen.

Manche Unternehmen hat das hart getroffen. Nehmen wir die Ölpest von BP im Golf von Mexiko im Jahr 2010. Das war einer der ersten Fälle, bei dem ein Unternehmen gezwungen wurde, es mit der Macht der sozialen Medien aufzunehmen – und die Menschen das Potenzial der ihnen zur Verfügung stehenden Werkzeuge erkannten. Wie die meisten Unternehmen in dieser Zeit war es BP gewohnt, mit den traditionellen Machtinstanzen zu kommunizieren – dem Weißen Haus, dem Kreml usw. – und das über traditionelle Kommunikationskanäle. Beispielsweise wurden sorgfältig ausgesuchte Journalisten informiert und präzise formulierte Presseerklärungen veröffentlicht.

Das alles hat sich seit der Ölpest im Golf geändert. Um das Thema herum bildeten sich Gruppen, die über Facebook kommunizierten. Es wurde viel geschrieben und diskutiert, und BP hatte daran weder einen Anteil, noch war das Unternehmen in der Lage, mit traditionellen Methoden des Kommunikationsmanagements Kontrolle auszuüben.

Seitdem hat das Ausmaß dieser Art von direkter Aktion deutlich zugenommen. Über soziale Medien werden Ideen sofort und unzensiert verbreitet. Dokumente, Bilder oder Videos werden geteilt, und plötzlich sind Geheimnisse für alle Welt sichtbar. Und obwohl sich falsche Informationen genau so schnell verbreiten wie richtige, sind häufig auch Korrekturen schnell zur Hand.

Kultur des Infragestellens

Jüngeren Menschen ist die Verwendung sozialer Medien als Aktivistenwerkzeug in Fleisch und Blut übergegangen. Es fällt ihnen leicht, YouTube, Twitter, Facebook oder Reddit zur Kommunikation und zur Gründung einer Gruppe rund um eine Idee, ein Thema oder einen Widerspruch zu nutzen – und über diese Kanäle eine kleine Gruppe in eine Massenbewegung zu verwandeln. Und die älteren Menschen stehen dem kaum nach.

Mit der wachsenden Macht der Konzerne wird die Kontrolle über sie immer wichtiger. Und auch der Umfang der Rechenschaftspflicht muss wachsen, um das Verhalten von Führungskräften und Angestellten zu beeinflussen. Ebenso wird auch der Aufsichtsrat immer mehr zur Verantwortung dafür gezogen, wie gut er die Geschäftsführung überwacht.

All das wird von einer Kultur des Infragestellens begleitet, wo vorher nicht hinterfragt wurde – einschließlich der Art der Unternehmensführung und der ethischen Qualität der Handlungen einer Organisation. Alle Taten können von jedem hinterfragt werden, und wenn es andere interessant oder wichtig finden, verbreitet sich die Frage – und nicht nur innerhalb einer kleinen Gemeinschaft, sondern darüber hinaus in die ganze Welt.

Unternehmen müssen sich der Realität stellen

Diese Veränderungen haben die Natur des Aktivismus und kollektiver Aktionen verändert. Auch sind ihm neue Arten von Verbündeten zu verdanken, darunter Aktivisteninvestoren wie Carl Icahn, die ihre Absichten über Twitter verbreiten und die Märkte zur Reaktion bewegen. Ebenso können diejenigen, die unter anderen Umständen solche Investoren als natürliche Feinde betrachten würden, mit ihren Positionen übereinstimmen, wenn es beispielsweise um die Vergütung von Managern oder die soziale Verantwortung von Unternehmen geht.

Aktivisteninvestoren können offene Briefe verfassen, die vielleicht von den traditionellen Medien nicht aufgegriffen werden, aber dann viral über Twitter oder Reddit verbreitet werden. Oft reicht das, um Aufsichtsräte oder Geschäftsführungen wachzurütteln und ihre Aufmerksamkeit zu erregen.

Konzernführer, die diese neue Realität akzeptieren, als Gelegenheit betrachten und der Versuchung widerstehen, Probleme „managen“ oder vermeiden zu wollen, werden künftig über Wettbewerbsvorteile verfügen. Sie werden Menschen dort begegnen, wo sie sind – nicht um sie zu manipulieren, sondern um zu hören, was sie zu sagen haben. Ihr erster Impuls wird nicht sein, moderne Methoden direkter Kommunikation zur Beeinflussung des Denkens und Tuns von Kunden, Angestellten und anderen Beteiligten zu verwenden. Stattdessen werden sie wirkliche Veränderungen in Angriff nehmen – und damit erfolgreicher sein.

Unternehmen stellen unsere Autos, unsere Telefone und die Schulbücher unserer Kinder her – und üben immer mehr Kontrolle über das tägliche Leben und das Schicksal von Menschen aus aller Welt aus. Ihr Einfluss erstreckt sich nicht nur auf diejenigen, die ihre Produkte verwenden, sondern auch auf die, die für sie arbeiten und in den Gemeinschaften leben, in denen sie ansässig sind. Wenn Unternehmen die Verantwortung, die mit ihrer großen und wachsenden Macht einhergeht, nicht ernst nehmen, wird es Menschen geben, die sie daran erinnern.

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff

Copyright: Project Syndicate, 2014.
 www.project-syndicate.org

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