Dr. Steffen Hagemann ist seit Dezember 2018 der Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung Tel Aviv – Israel. Vor seiner Tätigkeit bei der Heinrich-Böll-Stiftung war er als Assistenzprofessor für Politikwissenschaft an der Technischen Universität Kaiserslautern tätig.
CAPITAL: Am Dienstag wählen die Israelis zum vierten Mal in zwei Jahren eine neue Regierung. Wie macht sich die politische Instabilität der letzten zwei Jahre wirtschaftlich bemerkbar?
STEFFEN HAGEMANN: Israel befindet sich aktuell in einer dreifachen Krise: eine Krise des Gesundheitssystems durch die Corona-Pandemie, eine ökonomische und eine politische Krise. Letztere hat zur Folge, dass Israel in den letzten beiden Jahren keinen regulären Haushalt verabschiedet hat. Es ist zwar nicht wie in den USA zum Shutdown gekommen, aber bislang hat der reguläre Haushalt aus dem Jahr 2019 als Grundlage gedient. In der Pandemie hat die Regierung mit Sonderausgaben im Rahmen von Anpassungen reagiert, aber alles, was eine langfristige strategische Entwicklung bedeutet hätte, ist in den vergangenen zwei Jahren liegen geblieben. Dieser Zustand trifft besonders die Israelis schwer, die auf staatliche Zuschüsse angewiesen sind.
Wie hat Corona diesen Zustand beeinflusst?
Teile der Wirtschaft sind gut durch die Krise gekommen, aber es gibt auch einige Verlierer. Dazu gehört zum Beispiel der Tourismussektor, auch wenn er nur zwei Prozent des BIPs ausmacht. Der Hightech-Sektor ist dagegen besonders gut durch die Krise gekommen, dort gab es kaum Einbußen. In der israelischen Gesellschaft hat die Pandemie die Konfliktlinien und die sozialen Unterschiede verschärft. Geringverdiener sind durch Unterstützungsmaßnahmen noch relativ gut durch die Krise gekommen, aber gerade die Mittelschicht ist getroffen. Dazu gehören auch die Besitzerinnen und Besitzer von kleinen Geschäften, die in dieser Krise kaum ökonomische Rücklagen hatten. Das hat dazu geführt, dass die Anzahl der Familien, die in Armut leben, sehr stark gestiegen ist. Berichten zufolge sind 143.000 Familien zusätzlich von Ernährungsunsicherheit betroffen. Die unterschiedlichen Auswirkungen der Krise zeigen sich auch am Arbeitsmarkt. Der Schutz vor Arbeitslosigkeit ist in Israel deutlich schlechter als in vielen europäischen Ländern. Das sorgt für einen flexiblen Arbeitsmarkt, der zwar auf der einen Seite dafür gesorgt hat, dass viele Unternehmen eben sehr schnell Arbeitskräfte entlassen konnten und dadurch besser durch die Krise gekommen sind. Dadurch ist die Arbeitslosigkeit aber gleichzeitig entsprechend stark angestiegen.
Das heißt, welche Rolle spielt Wirtschaftspolitik bei den bevorstehenden Wahlen?
Es gibt keinen wirklichen Wahlkampf um ökonomischen Konzepte, um aus der aktuellen Krise herauszukommen und die israelische Wirtschaft zukunftsfähig zu machen. Stattdessen dreht sich die Wahl vor allem um die Person von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und um die Frage, ob es ihm noch einmal gelingen wird, eine Regierung zu bilden. Netanjahu versucht momentan die Erfolge der Impfkampagne und die daraus entstehenden Möglichkeiten der Öffnung hervorzuheben und hofft von dieser positiven Entwicklung aus der Krise heraus zu profitieren. Es sind aber auch gerade Wählerinnen und Wähler des Likud von der ökonomischen Krise betroffen, darunter zum Beispiel Kleinunternehmer. Gleichzeitig fordert die Opposition Netanjahu im aktuellen Wahlkampf auch nicht mit wirtschaftlichen Konzepten und Alternativen heraus. Das ist am ehesten noch der Fall bei Naftali Bennet von der ultrarechten Jamina-Partei, der ein Singapur-Programm vorgelegt hat und dabei sehr stark auf Entlastung der Wirtschaft und auf Steuerkürzungen setzt.
Der Korruptionsprozess gegen Netanjahu wird mit Blick auf die politische Situation immer wieder genannt. Welchen Einfluss hatt er auf den Urnengang am Dienstag?
Der Korruptionsprozess wird bei diesen Wahlen keinen entscheidenden Einfluss mehr haben, weil die israelische Bevölkerung sich ihre Meinung bereits gebildet hat. Diejenigen, die in den vergangenen Monaten gegen Netanjahu protestiert haben, haben Netanjahu auch bei den vergangenen Wahlen nicht gewählt. Die Wählerinnen und Wähler von Netanjahu sind dagegen entweder der Meinung, dass an den Vorwürfen nichts dran ist oder sie halten diese Vorwürfe in der Frage der Wahlentscheidung nicht für so gewichtig. Dass der Korruptionsprozess begonnen hat, macht also keinen Unterschied in dem Sinne, dass es noch Bewegung zwischen diesen beiden Blöcken gibt.
Die israelische Parteienlandschaft hat sich zwischen der dritten und vierten Parlamentswahl noch einmal deutlich geändert. Wie wirken sich das auf die Wahlen aus?
Was neu an dieser Wahl ist, dass Netanjahu diesmal auch auf Seiten der israelischen Rechten von mehreren Kandidaten wie Gideon Saar herausgefordert wird. Saar war früher Mitglied im Likud und hat Netanjahu bereits bei den Vorwahlen der letzten Wahl herausgefordert und verloren. Bei dieser Wahl tritt er mit seiner eigenen Partei „Neue Hoffnung“ an, die sich inhaltlich nicht von den Positionen des Likud unterscheidet, die aber den Personenkult um Netanjahu und die Korruption kritisiert. In Umfragen kommen die Parteien, die sich ideologisch dem rechten Lager zuordnen, zwar auf 70 bis 80 Sitze, allerdings ist unklar, ob es gelingt, eine Regierung zu bilden. Im israelischen Parteiensystem gibt es grundsätzlich sehr viele Parteien, daher ist die Koalitionsbildung mit fünf bis sechs Parteien nach jeder Wahl eine große Herausforderung. Kleinere Parteien sind damit oft ausschlaggebend dafür, ob eine Koalition zustande kommt. Damit haben sie oft auch viel Einfluss auf die Koalitionsverhandlungen. In den letzten Jahren hat dies durchaus die Enttäuschung mit der israelischen Politik verstärkt.
Was sind die wahrscheinlichsten Szenarien für eine künftige Regierungskoalition?
Letztlich wird vieles davon abhängen, wie die Wahlbeteiligung ausfällt. Das ist auch ein Indikator dafür, wie die israelische Bevölkerung diese Krisensituation bewertet. Zwar betont Netanjahu aktuell den Erfolg der Impfkampagne, aber die Menschen haben nicht vergessen, dass die Regierung beim Krisenmanagement viele Fehler gemacht hat. Das heißt es gibt ganz grundsätzlich in Israel einen Vertrauensverlust in die Institutionen der Demokratie, das Parlament und die Parteien. Die Frage wird daher sein, wie sich das auf die Wahlbeteiligung auswirken wird, welche Parteien ins Parlament einziehen und wem es letztlich gelingt, eine Regierungskoalition zu bilden. Es gibt für Netanjahu praktisch nur eine Möglichkeit auf die von ihm angestrebte rechtsreligiöse Regierungsmehrheit von 61 Sitzen in der Knesset zu kommen. Für das Anti-Netanjahu-Lager wird die Koalitionsbildung allerdings eine große Herausforderung darstellen. Denn es ist sehr heterogen und reicht von Parteien, die sich als linksliberal definieren bis hin zu Parteien, die rechts von Netanjahu stehen. Daher muss sich dieses Lager zwei Fragen stellen: Ist es bereit mit arabischen Parteien zu koalieren? Und ist es bereit mit ultraorthodoxen Parteien zu koalieren? Hier gibt es unterschiedliche Bereitschaftserklärungen, sodass es unklar ist, ob eine Koalition gegen Netanjahu zustande kommen wird. So besteht durchaus die Möglichkeit, dass die Wahlen wieder in einer relativen Pattsituation enden. Manche Beobachter rechnen hier daher schon mit den fünften Wahlen.
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