Im März 2023 ist Shawn Fain überraschend zum Chef der amerikanischen Autogewerkschaft UAW gewählt worden. Der 55-Jährige will die bisher weitgehend gewerkschaftsfreien Südstaaten der USA erobern. Das hat seine Organisation drei Jahrzehnte lang vergeblich versucht. Nun sieht Fain die Chance zum Durchbruch – ausgerechnet bei Volkswagen und Mercedes. Die Ausgangsposition ist so gut wie nie: US-Präsident Joe Biden nenn sich selbst einen „Gewerkschaftskerl“, die Zustimmung in der Öffentlichkeit ist so hoch wie seit den 60er-Jahren nicht und die robuste Konjunktur hat die Kräfteverhältnisse zugunsten der Arbeitnehmer verschoben.
Einen ersten Erfolg konnte Fain bereits verbuchen: In einem sechswöchigen Streik rang der neue UAW-Chef den „Big Three“ der US-Autobauer – GM, Ford, Stellantis (ehemals Chrysler) – im vergangenen Jahr Zugeständnisse ab, die Beobachter für unmöglich gehalten hatten: eine 25-prozentige Lohnerhöhung, die Rückkehr zum Inflationsausgleich und das Recht zu Streiks bei geplanten Betriebsschließungen.
Capital: Herr Fain, Ihre Gewerkschaft hat in Deutschland Beschwerde gegen Mercedes wegen des Verstoßes gegen das Lieferkettenkettensorgfaltsgesetz eingelegt. Was werfen Sie dem Konzern vor?
SHAWN FAIN: Mercedes nutzt in den USA illegale Praktiken, um eine Gewerkschaftsgründung zu verhindern. Wir werden nicht untätig zusehen, während sie Arbeitern drohen, sie einschüchtern und ihre Rechte verletzen. Das ist gemäß Lieferkettensorgfaltsgesetz eine Menschenrechtsverletzung. Das Gesetz setzt Standards, an die sich deutsche Unternehmen halten müssen, und es verbietet Unternehmen ganz klar, das Recht der Arbeitnehmer auf Gründung einer Gewerkschaft zu missachten.
Ihre Vorwürfe beziehen sich auf das Mercedes-Werk in Alabama, das die Autogewerkschaft UAW derzeit zu organisieren versucht. Das Unternehmen bestreitet, dass Aktivisten drangsaliert werden.
Dann fragen Sie doch den an Krebs erkrankten Arbeiter, dem erlaubt worden war, sein Handy mit zur Arbeit zu bringen, der dann aber deswegen gefeuert wurde. Oder den Vater mit dem Kind in der Kita, für den das Gleiche galt. Die Mitarbeiter sind Mercedes scheißegal. Mercedes und auch Volkswagen halten zwingende Betriebsversammlungen ab, wo sie Videos zeigen, die Gewerkschaften in ein schlechtes Licht setzen. Sie holen Politiker ins Werk, die gegen Gewerkschaften argumentieren. Sie drohen mit Betriebsschließungen, wenn es eine Arbeitnehmervertretung gibt, und sie feuern Leute. Das nennen sie neutral? Wie kann es sein, dass sich Mercedes in Deutschland auf die eine Weise verhält und in Amerika völlig anders? Dafür gibt es keine Entschuldigung.
Anders als im Mittleren Westen hat die UAW im Süden der USA nie Fuß gefasst, auch nicht bei Mercedes in Alabama oder Volkswagen In Tennessee. Wieso sollten Sie jetzt mehr Erfolg haben?
Die Arbeiter haben die Schnauze voll. Die Klasse der Milliardäre und die Klasse der Unternehmen hat ein gigantisches Wachstum erlebt, während die Arbeiter abgehängt wurden. Sie haben genug davon, von Lohnzettel zu Lohnzettel zu leben. Die Welt hat sich seit Covid verändert: Viele Menschen haben begriffen, was im Leben wichtig ist. Und das ist nicht 12 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche zu arbeiten. Oder mehrere Jobs gleichzeitig haben zu müssen.
Aber gerade jetzt läuft die US-Wirtschaft doch ziemlich gut und die Löhne steigen.
Ja, eben. Ich glaube, die Arbeiter verstehen, welche Macht sie haben. Sehen Sie sich die Tarifverträge an, die wir im Herbst mit unserem Streik bei den Big Three (GM, Ford und Stellantis, die Red.) erreicht haben. Mercedes erzählt der Öffentlichkeit, dass es gut zahlt. Fakt ist, sie tun es nicht. Ist Ihnen aufgefallen, dass alle diese nicht tarifgebundenen Unternehmen im Süden sofort die Löhne erhöht haben, nachdem wir einen Rekordabschluss mit den Big Three ausgehandelt hatten? Das zeigt doch, dass sie Mitarbeiter jahrelang ausgebeutet haben.
Haben Sie keine Angst, dass die Aufschläge Ihrer Kampagne den Wind aus den Segeln nimmt?
Überhaupt nicht. Die Leute verstehen, dass sie rausgekauft werden sollen. Die Unternehmen hätten die Löhne vor einem Jahr raufsetzen können, warum habe sie es nicht getan? Sie haben Angst, dass die Beschäftigten aufwachen und sehen, dass sie jahrelang über den Tisch gezogen wurden. Und dass sie nun einer Gewerkschaft beitreten wollen. Was auch der Fall ist. Ohne Gewerkschaft sind Sie der Willkür der Arbeitgeber ausgeliefert. Sie können gefeuert werden aus jedem Grund oder ganz ohne Grund. Die Unternehmen haben alle Macht und die einzige Möglichkeit, dem etwas entgegenzusetzen, ist durch die Gründung einer Gewerkschaft, die einen Tarifvertrag aushandelt. Wir stehen an einem entscheidenden Moment unserer Generation, um für die Arbeiterklasse in Amerika Sicherheit zu erringen.
Anläufe wie Ihren gibt es nicht nur in der Autoindustrie, sondern auch bei Konzernen wie Amazon oder Starbucks, wenn auch bisher mit begrenztem Erfolg. Woher kommt diese Welle?
Das lässt sich mit zwei Worten beantworten: Unternehmerische Gier. Wir wenden das Blatt, nicht nur in Amerika, sondern überall in der Welt. Die Arbeiter stehen auf und sie verlangen ihren fairen Anteil an der Wirtschaft. Die Unternehmen und die Milliardärsklasse können so viele Geschäfte aufbauen wie sie wollen, so viele Fabriken bauen, wie sie wollen. Am Ende des Tages gilt: Wenn wir unsere Arbeit zurückhalten, dann gibt es nichts in der Welt, das sich bewegt. Wir müssen uns zusammentun. So wie es die Unternehmen und die Reichen in den vergangenen 40 Jahren getan haben. Sie handeln heute global. Wir müssen unsere Leben zurückbekommen. Und wir werden alle Möglichkeiten nutzen, die wir haben. Genauso wie die Unternehmen das machen.
Nur jeder zehnte Arbeitnehmer in den USA ist heute noch in einer Gewerkschaft. Wie wollen Sie diesen Trend umkehren?
Seit dem Tarifabschluss mit den Big Three haben wir schon jede Menge Schlachten gewonnen. Natürlich werden wir nicht über Nacht auf 20 Prozent Mitglieder kommen. Aber Sie werden sehen, dass die Zahlen in den kommenden Jahren steigen.
Amerika ist ein urkapitalistisches Land. Wird die Gesellschaft Ihnen folgen?
75 Prozent der Amerikaner haben uns bei dem Kampf gegen die Big Three unterstützt. Ich würde sagen: Wir kommen gut voran.