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Gastkommentar Kein Markt ohne Gesellschaft

Die Eurozone leidet unter einem Kardinalfehler: Ein einheitlicher Markt mit einer gemeinsamen Währung ohne Einbindung in entsprechende politische und gesellschaftliche Strukturen funktioniert nicht.
Dani Rodrik
Dani Rodrik
© Andrzej Barabasz

Zum Auftakt unserer neuen Website schreiben ausgewählte Gastautoren zum Capital-Claim "Wirtschaft ist Gesellschaft". Heute: Dani Rodrik, Professor an der Harvard University.

Es ist eine fast magische Geschichte, die jeder Student der Wirtschaftswissenschaften lernt: Ein freier Markt koordiniert die Handlungen einer Vielzahl von Produzenten und Investoren, um die Bedürfnisse der Verbraucher auf die effizienteste Weise zu befriedigen. Adam Smith postulierte als Erster, dass eine Marktwirtschaft der Gesellschaft dient, obwohl keine der Personen, die daran teilnehmen, ein höheres Ziel haben als ihre kleinlichen Eigeninteressen.

Adam Smith selbst war kein Marktfundamentalist. Aber viele seiner Anhänger haben die falsche Botschaft aus der Lehre des großen schottischen Nationalökonomen und seiner Anhänger gezogen. Es ist die Idee, dass die Märkte der Gesellschaft den größten Nutzen bringen, wenn sie allein gelassen werden. In der gleichen Logik, ist umgekehrt das wirtschaftliche Scheitern, fast immer die Folge von zu großer Einmischung der Regierungen in effiziente Märkte.

Die Realität sieht jedoch so aus, dass gut funktionierende Märkte eine Reihe von nicht marktwirtschaftlichen Institutionen erfordern. Sie sind abhängig von gesellschaftlichen Maßnahmen, um Infrastruktur bereitzustellen, Regeln aufzustellen und Verträge durchzusetzen. Sie brauchen ein Regelwerk, um den Missbrauch von Marktmacht zu verhindern, den Verbrauchern Informationen zur Verfügung zu stellen und externe Effekte wie Umweltschäden zu internalisieren. Sie erfordern stabilisierende Institutionen wie einem Kreditgeber der letzten Instanz und eine antizyklische Fiskalpolitik. Und sie benötigen legitimierende Institutionen – wie Steuerumverteilung und Sicherheitsnetze – um sie im Hinblick auf die vorherrschenden Normen und die Anforderungen der sozialen Stabilität nachhaltiger zu machen.

Mit anderen Worten, die Märkte müssen tief in der Gesellschaft verankert werden. Werden sie "entwurzelt", sind eine Reihe von Krankheiten die Folge. Volkswirtschaften, die schlecht reguliert sind, werden anfällig für Marktversagen die von monopolistischem Verhalten bis zur übermäßigen Risikobereitschaft von Finanzvermittlern reichen. Wenn legitimierende Mechanismen nicht mehr funktionieren, untergraben die daraus resultierenden Ungleichheiten das Vertrauen in den Markt und damit seine Nachhaltigkeit.

All dies könnte nur von theoretischem Interesse sein, wenn Europa nicht in seiner gegenwärtigen Krise stecken würde. Im Grunde genommen ist die Eurokrise das Resultat des Versuchs, eine europaweite Marktwirtschaft ohne eine europäische Gesellschaft und Gemeinwesen zu schaffen. Als Europas Traum von einem Binnenmarkt mit freiem Handel um die Integration der Finanzmärkte mit einer gemeinsamen Währung erweitert wurde, hinkten die Institutionen hinterher, die zur Regulierung der Märkte benötigt werden. Nationale Vorschriften wurden abgeschwächt oder unwirksam, während die Internationalisierung der Regeln sehr technokratische Eigenschaften annahm, wie in der Geldpolitik. Märkte wurde eins, während die Gesellschaften und Gemeinwesen für sich blieben.

Die Wiedereingliederung der europäischen Märkte ist die einzige langfristige Lösung für die Krise in der Eurozone. Das erfordert nicht nur eine Banken- und Fiskalunion, sondern die Schaffung einer europäischen politischen Gemeinschaft mit demokratischer Kontrolle und Rechenschaftspflichten. Das ist sicherlich ein langfristiges Projekt. Aber es wird nichts daraus, wenn die heutigen politischen Verantwortlichen nicht ein sichtbares Zeichen setzen, das in diese Richtung weist.

Darauf zu bestehen, dass die schwächeren Volkswirtschaften erst ihr Haus in Ordnung bringen müssen, bevor eine echte fiskalische und politische Union erwogen werden kann, ist schlechte Ökonomie und schlechte Politik. Sie sorgt dafür, dass die wirtschaftliche Katastrophe in Griechenland, Spanien und anderen Ländern nur noch schlimmer wird. Und es wird die politische Verbitterung verschärfen, die bereits die Beziehungen zwischen Gläubiger- und Schuldnernationen charakterisiert. Kurz gesagt, es wird die Union auseinandertreiben, anstatt sie zu einen.

Foto: © Andrzej Barabasz

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