Enegieversorgung Kalter Entzug für Europa: Schluss mit russischem Öl und Gas

Europa hinkt im Vergleich zu einem US-Bundesstaat wie Kalifornien hinterher, wenn es darum geht, Batterien an das Stromnetz anzuschließen
Europa hinkt im Vergleich zu einem US-Bundesstaat wie Kalifornien hinterher, wenn es darum geht, Batterien an das Stromnetz anzuschließen
© Bing Guan/Bloomberg
Die Energiewende steht wegen des Klimawandels ohnehin auf der Tagesordnung. Durch den Ukraine-Krieg muss nun alles ganz schnell gehen. Aber wie kurzfristig kann Europa auf russische Energielieferungen verzichten? 

Russlands Krieg gegen die Ukraine hat aus der europäischen Energiewende ein Kriegsziel gemacht. Der Fahrplan der Europäischen Union für die völlige Umstellung der Energieversorgung von mehr als 440 Millionen Menschen darf jetzt nicht mehr Jahrzehnte dauern, sondern muss unter extremem Druck beschleunigt werden. Der Einschlag von Raketen in Kiew zertrümmert die bisherigen Pläne.

Während Moskau droht, seine Erdgaslieferungen durch die Pipeline Nord Stream 1 zu stoppen, durch die im vergangenen Jahr 38 Prozent der Gasimporte in die EU flossen, will Brüssel den Bedarf an russischem Gas in den kommenden neun Monaten auf weniger als ein Drittel kürzen. Washington und London haben im Alleingang angekündigt, kein russisches Öl mehr zu kaufen. Deutschland investiert 200 Mrd. Euro, um sich zehn Jahre früher als geplant vollständig mit erneuerbaren Energien zu versorgen.

Vor dem Krieg ging es um die globale Erwärmung, doch nun ist die Energiefrage noch dringlicher geworden: Was kann bis nächsten Winter getan werden, um der russischen Wirtschaft ihre wichtigste Geldquelle zu nehmen – ohne dass die Heizungen hierzulande kalt bleiben? Was, wenn das schon im kommenden Monat erreicht werden muss, weil Wladimir Putin seine Embargodrohung wahr macht?

Der Krieg in der Ukraine zeigt, wie das Finanzsystem als Waffe eingesetzt werden kann. Nun könnte das Gleiche bei Energie passieren. Im Folgenden die Möglichkeiten für eine rasche Abkehr von fossilen Brennstoffen aus Russland.

Ausstieg aus russischen Energieträgern

Europa gibt täglich bis zu 1 Mrd. Dollar für Kohle, Gas und Öl aus Russland aus. Auch damit wird die Kriegsmaschinerie des Kreml finanziert. Der EU-Klimabeauftragte Frans Timmermans sagte am Montag vor dem Umweltausschuss, es gäbe „keine Tabus“ und überließ die kommenden Maßnahmen jedem Land selbst. In der Praxis dürfte sowohl die Verbrennung von Kohle, Öl und Gas aus nicht-russischen Quellen zunehmen, als auch der Ausbau von Solar-, Wind- und Kernenergie.

Für Kohle lässt sich wohl am einfachsten eine Lösung finden: Die USA und Australien können zusammen 70 Prozent der von der EU importierten russischen Kohle ersetzen, sagt Brian Ricketts, Generalsekretär von Euracoal, einer Lobbygruppe der europäischen Kohleindustrie. Mehrkosten für Europa laut Berechnungen von Bloomberg Intelligence: etwa 20 Mrd. Euro.

Bei Öl ist es schon schwieriger. Freie Kapazitäten etwa in Saudi-Arabien oder den Vereinigten Arabischen Emiraten könnten theoretisch russische Ölimporte nach Europa innerhalb von Monaten ausgleichen. Allerdings wollen die beiden Länder ihre Produktion gar nicht hochfahren. Ohne russisches Öl könnte der Preis in Richtung 200 Dollar pro Barrel steigen. Dann müsste die EU zusätzliche 80 Mrd. Euro ausgeben, um russisches Rohöl zu ersetzen.

Obwohl die Schieferölproduktion schneller steigen könnte, als sie es derzeit tut, haben US-Produzenten wiederholt gesagt, Gewinne seien ihnen derzeit wichtiger als Mengenwachstum. Wenn der politische Wille da ist, könnte auch Öl aus dem Iran und Venezuela wieder auf die Weltmärkte gebracht werden.

Laut der Internationalen Energieagentur kann Europa in diesem Jahr mehr als die Hälfte des aus Russland gelieferten Gases ersetzen
Laut der Internationalen Energieagentur kann Europa in diesem Jahr mehr als die Hälfte des aus Russland gelieferten Gases ersetzen
© Bloomberg

Das Dilemma bei Kohle und Öl ist weniger deren Verfügbarkeit als die Auswirkungen, die das auf den Planeten hätte: Die Verbrennung von Kohle statt Gas würde die Emissionen der EU nach Berechnungen von Bloomberg um etwa acht Prozent erhöhen. Zumindest so lange, bis erneuerbare Energien den Wegfall kompensieren.

Das ist bei Erdgas nicht der Fall. Einige Länder könnten versuchen, mehr Gas im eigenen Land zu fördern. Für die Erschließung alternativer Quellen wie Flüssiggas (LNG) müsste eine Versorgungsinfrastruktur aufgebaut werden, die sich nur lohnt, wenn sie auch jahrzehntelang genutzt wird.

Nach Schätzungen der IEA könnte Europa seine russischen Gasimporte bis nächsten Winter um die Hälfte reduzieren. Dazu wäre mehr Gas aus Aserbaidschan, Norwegen und Algerien nötig, mehr Flüssiggas und die Reparatur undichter Pipelines (was auch willkommene Klimaschutzeffekte hätte).

Mit einer Rationierung von Strom könnte auf russisches Gas sogar komplett verzichtet werden. Das Auffüllen der Gasspeicher aus Quellen außerhalb Russlands würde allerdings laut Aurora Energy Research bis zu 100 Mrd. Euro kosten.

Keiner der Vorschläge für Erdgas ist so ehrgeizig wie das, was die EU selbst in Erwägung zieht: Etwa 102 der 155 Milliarden Kubikmeter zu ersetzen, die sie dieses Jahr aus Russland importiert hätte. Stattdessen müsste viel LNG beschafft werden, das allerdings auch in Japan und China begehrt ist.

Nach Berechnungen von Bloomberg würde eine drastische Verringerung oder der Verzicht auf fossile Brennstoffe aus Russland die EU rund 200 Mrd. Euro pro Jahr kosten. Das ist weniger als das, was die EU im Rahmen ihrer Green-Deal-Politik jährlich in Energieinfrastruktur investieren will.

Wird das Putin schwächen?

Die Europäer, die den Angriff Russlands auf die Ukraine mit Entsetzen verfolgen, eint der Wunsch zu helfen. Konkret kann jede Europäerin und jeder Europäer Putins Streitkräfte schwächen: durch den Verbrauch von weniger Strom, weniger Gas zum Heizen und weniger Benzin fürs Auto.

Ein Herunterdrehen der Thermostate um ein Grad Celsius in Europa würde die Nachfrage nach russischem Gas in diesem Jahr um sieben Prozent senken, so die IEA. Ein zügiger Austausch von Gaskesseln durch Wärmepumpen und die bessere Wärmedämmung von Häusern würden ebenfalls helfen. Die Bürger werden ihren Teil beitragen müssen. „Wenn Sie nicht gegen den Klimawandel vorgehen wollen, dann tun Sie es gegen Putin“, sagte der luxemburgische Energieminister Claude Turmes vergangene Woche auf einem Panel. 

Rationierung wäre eine extreme Maßnahme. Während der Ölkrise in den 1970er-Jahren durften in den USA nur Autos mit geraden Nummernschildern an geraden Tagen tanken. Die Briten erhielten nach dem Zweiten Weltkrieg Tankgutscheine. In Deutschland erinnert man sich an den autofreien Sonntag.

Rationierung sei das Eingeständnis, dass man an der Heimatfront Opfer bringen muss, damit man an der Front erfolgreich sein kann, sagt Meg Jacobs von der Princeton University. Damit knüpfe man „Opfer an die Bewahrung der Demokratie“. Genau das tut derzeit der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj.

Längerfristig könnte eine schnellere Elektrifizierung des Verkehrs den Ölverbrauch senken. In Norwegen etwa machen Elektrofahrzeuge dank starker Anreize bereits 15 Prozent der Autos auf den Straßen aus. Der Ölverbrauch des Landes ist gegenüber 2011 um zehn Prozent gesunken.

Europa kann seinen Ölbedarf durch mehr Elektroautos reduzieren
Europa kann seinen Ölbedarf durch mehr Elektroautos reduzieren
© Bloomberg

Schnelle grüne Lösungen

„Der längerfristige Ausweg besteht darin, unsere Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen so schnell wie möglich zu senken“, sagt Michael Bradshaw, Professor für globale Energie an der University of Warwick. Von allen verfügbaren grünen Lösungen lässt sich das Tempo bei der Solarenergie am einfachsten erhöhen. Paneele sind leicht zu installieren, Dächer in ganz Europa bieten Platz. Lediglich Genehmigungsverfahren müssten vereinfacht werden.

Europa könnte den Ausbau der Solarenergie in diesem Jahr mit ein einigen wichtigen Maßnahmen beschleunigen
Europa könnte den Ausbau der Solarenergie in diesem Jahr mit ein einigen wichtigen Maßnahmen beschleunigen
© Bloomberg

Eine Beschleunigung der Verfahren, eine Pflicht für Module auf neuen Häusern und die Gewährleistung, dass produzierter Solarstrom, auch verkauft werden kann, würden nach Schätzungen von BloombergNEF ausreichen, um die Installation von bis zu 45 Gigawatt Solarstrom in diesem Jahr zu initiieren, genug für Millionen Haushalte.

Bei Windkraft wird es schwieriger. Der Bau von Turbinen dauert länger und die Branche hat bereits jetzt Probleme mit ihren Lieferketten. Dennoch würde eine Reform der Genehmigungsverfahren längerfristig viel nützen.

Der Ausbau der Windkraft ist schwieriger als die Erweiterung der Solarkapazitäten
Der Ausbau der Windkraft ist schwieriger als die Erweiterung der Solarkapazitäten
© Bloomberg

Auch über die Priorisierung von Großprojekten könnte man die Kapazität relativ schnell erhöhen. Würde Deutschland etwa seine letzten drei Kernreaktoren weiterlaufen lassen, die Ende 2022 abgeschaltet werden sollen, könnte das den Gasverbrauch des Landes in den nächsten zwei Jahren um etwa drei Prozent senken, schätzt BloombergNEF.

Langfristig saubere Energie

Neben kurzfristigen Maßnahmen muss Europa auch in neue Technologien investieren, um sich von fossilen Brennstoffen verabschieden zu können. Die Rolle von Gas und Kohle als Reserven bei Bedarfsspitzen müsste von Batterien übernommen werden – jedoch nicht nur in Elektroautos, sondern in Form von reinen Energiespeichern.

Bei Netzbatterien hinkt Europa hinterher – in Kalifornien oder Australien wird viel mehr Speicherkapazität hinzugefügt, unterstützt von der Politik. Entscheidend ist, dass es sich um Batterien im Netzmaßstab handelt. Diese müssen nicht notwendigerweise auf der Lithium-Ionen-Technologie basieren, die etwa in Autos verwendet wird. 

„Grüner“ Wasserstoff aus erneuerbaren Energien ist nach dem Anstieg der Gaspreise relativ gesehen billiger geworden. Eine solche Anlage, in der Elektrolyseure Wasser in Wasserstoff- und Sauerstoffatome spalten, zu planen und zu bauen, dauert laut Meredith Annex, Analystin bei BloombergNEF, lediglich zwei Jahre.

Die bestehende Nachfrage Europas nach aus Erdgas hergestelltem Wasserstoff könnte jedoch nur mit riesigen Mengen Ökostrom gestillt werden. Womöglich braucht es dann auch mehr massive Kabel, um Windstrom aus Nordeuropa in die Städte weiter südlich zu transportieren. Oder durch das Mittelmeer, um Solarstrom von Tunesien und Ägypten nach Italien und Griechenland zu bringen.

Problem: alle derzeitigen Produktionskapazitäten für große Kabel sind schon vergeben, sagt Christopher Guerin, Vorstandsvorsitzender des französischen Herstellers Nexans. Ein großes Kabel herzustellen für eine Trasse etwa quer durch die Nordsee kann drei Jahre dauern und benötigt Rohstoffe wie etwa Kupfer, die nicht beliebig zur Verfügung stehen. Wenn der politische Wille da ist, könne die Branche jedoch damit beginnen, entsprechend zu investieren. „Nichts ist unmöglich“, sagte Guerin. „Es ist alles eine Frage von Zeit und Investitionen.“

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