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Kommentar Modis chinesische Träume

Will Indien sein volles wirtschaftliches Potenzial entfalten, muss es seinen Arbeitsmarkt reformieren: Weniger Regulierung, mehr Bildung
Modi will Indiens Wirtschaft stärken - das gelingt ihm nur, wenn er den Arbeitsmarkt reformiert
Modi will Indiens Wirtschaft stärken - das gelingt ihm nur, wenn er den Arbeitsmarkt reformiert
© Getty Images


 

Lee Jong-Wha ist Professor für Ökonomie und Direktor des Asian Research Institute an der Korea University sowie ehemaliger Berater des früheren südkoreanischen Präsidenten Lee Myung-bak.

In den letzten Jahren haben sich China und Indien zu globalen Wirtschaftssupermächten entwickelt, wobei China vor Indien liegt. Doch angesichts der Wachstumsverlangsamung und der zunehmend akut werdenden Notwendigkeit eines Strukturwandels in China stellt sich die Frage, ob die wirtschaftlichen Reformbestrebungen des neuen indischen Premierministers Narendra Modi es dem Land ermöglichen werden, diesen Rückstand aufzuholen.
Aufgrund reichlich vorhandener kostengünstiger Arbeitskräfte, hoher Spar- und Investitionsquoten, substanzieller Marktreformen, nach außen orientierter Politik und umsichtiger makroökonomischer Steuerung weist China seit den 1980er Jahren ein beispielloses Wirtschaftswachstum auf. Die Führung hofft nun, durch die Entwicklung technologisch anspruchsvoller Branchen den Status eines Landes mit hohen Einkommen zu erreichen.

Die Wirtschaftsleistung Indiens hingegen war weniger bemerkenswert. Aufgrund der Handelsliberalisierung und anderer wirtschaftlicher Reformen begann sich das Wirtschaftswachstum in den frühen 1990er Jahren dramatisch zu beschleunigen. Dann gerieten die Reformen allerdings ins Stocken, die Haushalts- und Leistungsbilanz-Defizite stiegen sprunghaft an und das jährliche BIP-Wachstum sank auf 4 bis 5 Prozent.

Aufgrund dieser Entwicklung wurde Indien von China überholt. Das Pro-Kopf-Einkommen in China lag im letzten Jahr bei 11.850 Dollar – und damit mehr als doppelt so hoch wie der entsprechende indische Wert von 5.350 Dollar. Nun lautet die Frage, ob Modis Bemühungen um rascheres Wachstum diese Kluft bei den Einkommen in den nächsten Jahrzehnten verringern werden können.

Indiens Bevölkerung ist im Schnitt jünger als China – das ist sein Vorteil

Indiens bedeutsamster Vorteil ist seine „demographische Dividende”. In China führen eine alternde Bevölkerung und niedrige Geburtenraten bereits zu einem Rückgang des Bevölkerungsanteils im Haupterwerbsalter zwischen 15 und 59 Jahren. Man rechnet damit, dass diese Gruppe von 2015 bis 2040 um über 115 Millionen schrumpfen wird. Unterdessen wird der Anteil der Bevölkerung im Haupterwerbsalter in Indien um 190 Millionen ansteigen.
Allerdings werden günstige demographische Daten allein nicht für ein Wirtschaftswachstum in jenem Ausmaß sorgen, das China zur zweitgrößten Ökonomie der Welt aufsteigen ließ. Die indische Führung muss einen umfassenden Plan konzipieren, um Hindernisse im Hinblick auf Wettbewerbsfähigkeit zu beseitigen, Beschäftigungsmöglichkeiten in der Fertigung auszuweiten sowie Ausbildung und Qualifikationen der Arbeitskräfte zu verbessern.

Derzeit liegt Indien weltweit auf Platz 60 in der Rangliste wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit (PDF) – sehr weit hinter China, das an 29. Stelle zu Ländern hohen Einkommens wie Südkorea (Rang 25) und Frankreich (Rang 23) aufrückt. Die Gründe dafür sind nicht schwer zu erkennen: Indien schneidet hinsichtlich der grundlegenden Faktoren für langfristigen wirtschaftlichen Wohlstand schlecht ab.

Tatsächlich befinden sich das öffentliche Gesundheitswesen und der Bildungsbereich in Indien trotz ständiger Verbesserungen nach wie vor auf niedrigem Niveau (Rang 102 weltweit). Außerdem untergräbt der Mangel an geeigneter Transport-, Kommunikations-, und Energieinfrastruktur (Rang 85) das indische Produktivitätswachstum. Und auch hinsichtlich der Effizienz seiner Produkt- und Arbeitsmärkte hinkt Indien China hinterher (Rang 85 beziehungsweise Rang 99). Nur durch die Beseitigung dieser Defizite kann Indien genügend Investitionen anlocken und das Wirtschaftswachstum ankurbeln.

Allerdings ist der indische Arbeitsmarkt hochreguliert, was die Ansiedlung arbeitsintensiver Industrien erschwert

Gleichzeitig sollte Indien die arbeitsintensive Fertigung ausbauen und somit Beschäftigungsmöglichkeiten für seine wachsende Zahl von Arbeitskräften schaffen. Angesichts der Tatsache, dass die Fertigung lediglich für 15 Prozent der Gesamtproduktion in Indien verantwortlich ist - der entsprechende chinesische Wert liegt bei 31 Prozent - besteht beträchtlicher Spielraum, Wachstum zu schaffen.

In gewisser Weise verfügt Indien über den Vorteil, von China lernen zu können. Durch den Aufbau einer starken, arbeitsintensiven industriellen Basis, der Verlagerung der Arbeitskräfte aus der Landwirtschaft in die Produktion und das Bauwesen sowie durch die Verbesserung der Produktivität in allen Sektoren, gelang es China seine agrarisch geprägte Ökonomie einem Wandel zu unterziehen. In China ist der Agrarsektor heute für lediglich ein Drittel der Gesamtbeschäftigung verantwortlich, während in Indien die Hälfte aller Arbeitskräfte in der Landwirtschaft arbeitet.

Strukturwandel und nachhaltiges Wachstum in Indien werden von Modis Bemühungen abhängen, einen flexiblen Arbeitsmarkt aufzubauen. Im Zentrum steht dabei die Lockerung veralteter und komplizierter Arbeitsgesetze. Der gesetzliche Arbeitnehmerschutz auf dem formellen Sektor in Indien übertrifft die Bestimmungen in den meisten entwickelten Ländern, auch jene Chinas, wobei die Zahl der gesetzlichen Anforderungen mit der Zahl der Beschäftigten steigt. Jagdish Bhagwati und Arvind Panagariya haben darauf hingewiesen, dass die exzessive Regulierung des Arbeitsmarktes indische Unternehmer von der Einstellung ungelernter Arbeitskräfte und dem Aufbau einer arbeitsintensiven Fertigung abhält. Das bedeutet, dass die indische Regierung ihre Reformbestrebungen in diesem Bereich verdoppeln sollte.
Ebenso wichtig ist, dass indische Arbeitnehmer – vor allem junge Menschen – Möglichkeiten bekommen, ihre Qualifikationen kontinuierlich zu verbessern. Laut einer Schätzung des McKinsey Global Institute werden im Jahr 2020 von dem potenziell 90 Millionen Menschen umfassenden globalen Überangebot an gering qualifizierten Arbeitskräften 27 Millionen auf Indien entfallen. Demgegenüber werden dem Land 13 Millionen Arbeitskräfte mittlerer Qualifikation fehlen.

Die gute Nachricht ist, dass Modi das Geschäftsklima in Indien verbessern will

Trotz der Bildungsexpansion in Indien, insbesondere im sekundären und tertiären Bereich, bleibt das höhere Bildungssystem, einschließlich der Bereiche technische und berufliche Ausbildung unzureichend. Obwohl die öffentlichen Berufsausbildungssysteme in Indien gut institutionalisiert sind, fehlt es an entsprechendem Umfang, an Lehrplänen, Finanzierung und Anreizen, um die jungen Arbeitskräfte so auszubilden, dass sie für die Anforderungen einer rapiden Globalisierung und des technischen Fortschritts gerüstet sind.
Die gute Nachricht besteht darin, dass sich Modi offensichtlich dazu bekennt, die Wettbewerbsfähigkeit Indiens durch eine Verbesserung des Geschäftsklimas anzukurbeln. So hat er beispielsweise bereits Maßnahmen zur Förderung ausländischer Direktinvestitionen in den Bereichen Versicherungen, Verteidigung und Telekommunikation ebenso angekündigt wie höhere Ausgaben für Infrastruktur und neue steuerliche Anreize für Ersparnisse und Investitionen. Indiens Regierung wird auch an den Bestrebungen ihrer Vorgänger zur Stärkung der Berufsausbildung festhalten.

Dem Plan Modis fehlt es an einem Schwerpunkt auf Ausweitung der arbeitsintensiven Branchen in Indien. In Kombination mit den geplanten Reformen würde es ein derartiger Schwerpunkt Indien ermöglichen, die sich aus seiner günstigen Demographie ergebenden Chancen zu ergreifen und ein Wirtschaftswachstum wie China zu erreichen.

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier - Copyright: Project Syndicate, 2014

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