Vergangenes Jahr feierte Boschs indischer Ableger 100-jähriges Bestehen. Top-Manager Soumitra Bhattacharya, 64, hat nahezu sein ganzes Berufsleben bei dem Stuttgarter Konzern verbracht, fast durchweg bei Bosch India. Unter seiner Ägide ist die Firma in Indien auf über 30.000 Mitarbeiter gewachsen. Er hat auch maßgeblich den Neubau der Firmenzentrale im Bangalore verantwortet, eingeweiht zum Jubiläum 2022. Der Firmensitz inmitten der südindischen Metropole, wo er den stern empfängt, ist moderner als viele Bürogebäude in Deutschland.
Herr Bhattacharya, am Samstag beginnt in Indiens Hauptstadt neu Delhi der Gipfel der G20-Runde, der weltweit führenden Industrienationen, deren Vorsitz Indien aktuell innehat. Deutschlands Delegation führt Kanzler Olaf Scholz persönlich an. Was macht Indien als Markt für deutsche Firmen so interessant?
Wenn man heute schaut, wo man investieren kann, stößt man schnell auf Indien. Indien ist nicht das einzige Land, das attraktiv ist für Investitionen, aber eines von sehr wenigen. Hier hat man eine große Bandbreite für Investments. Aber das Engagement im Land sollte immer langfristig sein. Bosch ist seit 100 Jahren in Indien vertreten und wir investieren kontinuierlich in das Land und in seine Zukunft. Wir haben erst kürzlich 100 Millionen Euro in eines der modernsten Entwicklungszentren in Adugodi, Bangalore, investiert – dort arbeiten rund 8000 Beschäftigte. Kurzfristige Investments in Indien ergeben keinen Sinn.
Warum?
Weil es eine nachhaltige Entwicklung auf lange Sicht gibt – die gilt es bei Investitionen zu berücksichtigen. Die Zahl der Menschen in Armut sinkt. In Indien gab es vor 20 Jahren noch Nahrungsmittelknappheit. Heute sind viele Menschen in die Mittelklasse aufgestiegen. Viele weitere streben in die mittlere und obere Mittelklasse. Das heißt Boom beim Bau, bei Automobilen und bei Konsumgütern. Jetzt haben viele Menschen eine Chance. Sehen Sie nur, wie viel weniger Menschen heute unter der Armutsgrenze leben als noch vor 25 Jahren.
Die Zahlen aus Indien sind mit Vorsicht zu genießen. Der letzte Zensus, liegt zwölf Jahre zurück. Erhebungen von 2021 wurden nicht veröffentlicht.
Es geht nicht nur um Daten, die der Zensus zeigt. Es geht auch um die Entwicklung der Kaufkraft. In Indien wurden allein im vergangenen Jahr mehr als vier Millionen Autos und knapp eine Million Traktoren produziert und verkauft. Bei Motorrädern waren es mehr als 19 Millionen. Die steigende Kaufkraft ist ein großer Faktor. Man sieht das auf den Straßen. Bosch liefert innovative Technik für all diese Fahrzeugklassen.
Bei aller positiven Entwicklung: Die Ungleichheit im Land ist weiter riesig.
Es gibt fünf Metropolen wie hier Bangalore, dann kommen kleinere Städte, die alle auch viele Millionen Einwohner haben. Selbst Städte der dritten Kategorie sind noch größer als Berlin. Die Dörfer im Hinterland wiederum lassen sich mit dem Leben in diesen Städten nicht vergleichen …
… vor allem in Sachen Kaufkraft …
… in keiner Hinsicht. Dabei gibt es auch auf den Dörfern sehr reiche Menschen. Aber die Bauern, die als Tagelöhner arbeiten …
… die können sich nicht mal eben einen Bosch-Kühlschrank kaufen, oder?
Natürlich nicht, aber sie haben alle ein Handy. Jeder Farmer kann schauen, wo er das meiste Geld für seine Ware bekommt, ohne auf Vermittler angewiesen zu sein. Das ist Teil der positiven Entwicklung. Auch Bosch ist in Indien kontinuierlich gewachsen, weil wir immer auch für den aufstrebenden Teil der Gesellschaft produziert haben. Wir haben erschwingliche Innovationen für den lokalen Bedarf entwickelt. Da zeigen alle Parameter nach oben.
Wie lange wird das so bleiben?
Das kann kein Mensch vorhersagen. Es wird Dämpfer geben und Spitzen, aber es wird aufwärts gehen.
Ist heute schon gerechtfertigt, von einem Indien-Boom zu sprechen?
Wir erleben eine große Veränderung, die viele Bereiche betrifft. Das neue Terminal am Flughafen hier in Bangalore ist nur ein Beispiel. An der Luftfahrt sieht man, dass die Menschen sich mehr leisten können. Die Mittelklasse fliegt jetzt. Die Nachfrage ist gestiegen, jeder Flug ist voll. Dies zeigt beispielhaft: Indien wird immer das Land bleiben, wo die einzige Gewissheit die Ungewissheit ist. Aber im Rahmen dieser Ungewissheit werden wir ein nachhaltiges Wachstum erleben.
Also sollten ausländische Investoren besser auf langfristige Erfolge setzen, als in einen Goldrausch zu verfallen?
Ja. Langsam, langsam. Man sollte sich nicht so sehr auf Spitzen und Rückschläge konzentrieren, sondern auf die Linie, die sich im Verlauf der Jahre stetig nach oben bewegt. Das ist der indische Weg, und auch Bosch hat so seit 1922 seine Präsenz im Land deutlich ausgebaut.
Seit Jahrzehnten liegt die Wachstumsrate in Indien bei 3,5 Prozent. Manche Beobachter sprechen deswegen etwas abschätzig von der „Hindu rate of growth“. Bleibt es dabei?
Volkswirte prognostizieren ein Wachstum von rund 6 Prozent – das entspricht auch meinen Erwartungen. Das ist also mehr als die Hindu rate of growth. Aber wichtiger als Prozentzahlen ist die Frage: Wird dies nachhaltig sein? Ich denke, dass die Entwicklung in Indien in der kommenden Dekade deutlich anziehen wird – vorausgesetzt, es kommen keine größeren neuen globalen Krisen hinzu. Unterm Strich wird die Entwicklung nachhaltig nach oben gehen. Wir sind die jüngste Nation der Welt, eine der wenigen, die weiterwächst.
Trotzdem sagen Sie, für ausländische Firmen sei es jetzt besonders schwierig, in Indien Fuß zu fassen. Warum?
Das hat mit unserer Kultur und der geringen Kenntnis darüber zu tun. Außerdem wird es zunehmend schwierig, gute lokale Fachkräfte zu finden, da die Konkurrenz wächst. Für Firmen, die neu in den Markt kommen, sind die Herausforderungen also viel größer als früher.
Aber jeden Monat drängt doch eine Million junger Inder auf den Jobmarkt. Warum schließen die die Lücken nicht?
Wir müssen einen stärkeren Fokus auf die Berufsausbildung legen. Das ist eines der wichtigsten Themen für Indien – auch wir bei Bosch leisten einen Beitrag dazu. Wir haben bereits seit 1961 ein Ausbildungszentrum in Indien. Ein Teil der Absolventen bleibt bei Bosch, den übrigen geben wir durch die Ausbildung einen Start ins Berufsleben bei einem anderen Arbeitgeber.
Was lernen die Leute da?
Wir orientieren uns an dem deutschen dualen System. Wir haben viele unterschiedliche Programme aufgelegt, auch Meister aus Deutschland hergebracht. Die wirken als Multiplikatoren dafür, dass die Leute die richtigen Kompetenzen erlangen. Vor zehn Jahren haben wir für benachteiligte Jugendliche, die kaum Chancen haben, ein Programm eingerichtet. Bis heute haben 50.000 Jugendliche daran teilgenommen. Alle haben einen Job gefunden.
Mangelt es generell an Bildung auf breiter Basis?
Die Ausbildung an Gymnasien und Hochschulen für Ingenieure und Manager ist gut. Deswegen haben wir den IT-Boom, deswegen wurde Bangalore zum indischen Silicon Valley.
Aber in China, Indiens großem Konkurrenten um internationale Investitionen, ist die Ausbildung besser, oder?
Ich kann nur über Indien sprechen. Der Vorteil von Indien ist, dass ein Großteil der Bevölkerung Englisch spricht. Viele unserer Universitätsabsolventen gehen nach England oder in die USA und machen da einen sehr guten Job. Problematisch in Indien sind die hohen Abbruchquoten. Zudem fehlt es an Ausbildungsmöglichkeiten für Facharbeiter. Da gibt es viel zu verbessern.
Wird Indien das neue China, ein neuer Wachstumsmotor für die Weltwirtschaft?
Indien wird den indischen Weg gehen. Das ist ein sehr spezieller Weg mit viel Auf und Ab, der länger dauern kann. Aber Indien hat das Potenzial, die Welt zu überraschen – so wie uns das bereits im Bereich der Informationstechnologie gelungen ist.
Ist Indien auch auf anderen Feldern für Überraschungen gut? Könnte es zum Beispiel Chinas Rolle als Fabrik der Welt übernehmen?
Indien hat sehr viel Potenzial. Sehr wichtig ist, dass jeder mitarbeitet. Die Regierung allein schafft das nicht. Es braucht die Industrie, die Bürger, die Gesellschaft. Bosch engagiert sich hier vielfältig – egal, ob es um Ausbildung, Gewässerschutz oder Zuwendungen für die Gesellschaft im Gesundheitsbereich geht, ob im ländlichen Raum oder nahe unseren Produktionsstätten. Das passiert aus der Gewissheit heraus, dass es notwendig ist, dass auch wir als Wirtschaftsunternehmen bei der gesellschaftlichen Entwicklung mithelfen.
Warum ist soziales Engagement in Indien ein Muss?
Weil die Unterschiede zwischen Arm und Reich so unglaublich groß sind. Es ist eine Verpflichtung zu helfen, weil wir soziale Stabilität brauchen. Indien ist sehr viel sicherer als viele andere Länder. Gemessen an den großen sozialen Unterschieden haben wir kaum Probleme mit sozialen Unruhen.
Warum nicht?
Indien hat eine lange Geschichte der Akzeptanz von unterschiedlichsten Kulturen, Gesellschaften, Religionen und Menschen. Die indische Kultur erlaubt es den Menschen, egal ob reich oder arm, zusammenzuleben. Die Leute leben in Slums, daneben Reiche in modernen Hochhäusern.
Führt dieses wachsende Wohlstandsgefälle nicht absehbar zu Instabilität?
Meine Prognose ist, dass das Indien der Zukunft stärker sein wird, weil die Zahl der Menschen unterhalb der Armutsgrenze abnimmt. Armut wird nicht eliminiert, aber es wird weniger werden, langsam, aber sicher. Armut kann man nicht über Nacht abschaffen.
Der Beitrag ist zuerst bei stern.de erschienen.